Giwi Margwelaschwili, Fluchtästhetische Novelle

„Wie komme ich jemals von hier weg, wenn kein Leser mich begleitet?“ (62)
Wakusch, der Held der fluchtästhetischen Novelle, hat tatsächlich seltsame Sorgen.

Er ist entführt worden oder vom Geheimdienst verhaftet, sitzt als Nachkriegsgefangener am Flughafen Berlin Schönefeld in einer Douglas mit sowjetischen Hoheitszeichen und sieht, wie die Maschine propellert, aber nichts geschieht. Als Buchstabenheld unterliegt er den Gesetzen der Buchstabenwelt: Buchpersonen sterben durch das Nicht-gelesen-Werden.

Wakusch ist ziemlich verzweifelt, mit Mühe ist es ihm gelungen, sich am Pissoir seiner Wärter zu entledigen und mit einem Leser in Kontakt zu treten, der ihm erzählt, dass die Sowjetunion sich auflösen wird und er somit alles überleben wird.

Wenn das stimmt, denkt sich der Held, der auf die Überstellung nach Georgien wartet, dann  muss er ja gar keine Fluchtversuche unternehmen, denn die Geschichte wird alles regeln und gut ausgehen.

Diese Buchstabenwelt inszeniert Giwi Margwelaschwili als Fiktion zu seiner eigenen Geschichte. Der Autor selbst wurde in Berlin zusammen mit seinem Vater 1946 vom Geheimdienst NKWD entführt, sein Vater wurde ermordet, er selbst nach Georgien verschleppt, erst 1987 konnte er nach Deutschland zurückreisen.

Diese erzwungene Flucht aus dem Land lässt sich nur über die Fiktion aushalten und bewältigen. Wenn in der Buchstabenwelt alles möglich ist, dann muss man als Autor bloß selbst Teil dieser Buchstabenwelt werden, um den Gräuel der Realität zu entkommen.

Freilich ist die Buchwelt mindestens so gefährlich wie die sogenannte reale Welt, dort herrscht nämlich Leserschwund, der die Geschichten zum Scheitern und Verlöschen bringt.

Warum interessiert sich in diesem Deutschland niemand für eine Fluchtgeschichte, obwohl halb Deutschland aus einer Flüchtlingsbewegung hervorgegangen ist, fragt sich Wakusch beklommen.

Währen der ganzen Novelle propellert als Zeichen von Geschäftigkeit das Flugzeug vor sich hin und gleicht dadurch dem Literaturbetrieb, der ebenfalls am Stand Krawall macht, aber nicht vom Fleck kommt.

Gegen Ende steigt die Maschine einen Moment lang auf, landet aber wieder in Schönefeld, weil es egal ist, an welchem Flughafen man wartet. Der Wechsel von introspektivem und extrospektivem Habitus lässt als solcher vielleicht eine Art Wahrheit erkennen.

In Manuskripten sterben die Buchpersonen leichter als in veröffentlichten Büchern, die ihre Leser langsam verlieren, so dass sie schließlich als semantische Lieblosigkeit enden. (116)

Die fluchtästhetische Novelle ist der skurrile Versuch, die Brutalität der Geschichte erträglich zu machen, sie ist ein Trost für introspektive Autoren und eine Ermunterung an die Leser, die Literatur gefälligst am Leben zu erhalten. -Märchenhaft einleuchtend!

Giwi Margwelaschwili, Fluchtästhetische Novelle. Mit einer Nachbemerkung von Jörg Sundermeier.
Berlin: Verbrecher 2012. 132 Seiten. EUR 18,50. ISBN 978-3-943167-01-6.

Weiterführende Links:
Verbrecher-Verlag: Giwi Margwelaschwili, Fluchtästhetische Novelle
Wikipedia: Giwi Margwelaschwili

 

Helmuth Schönauer, 02-01-2013

Bibliographie

AutorIn

Giwi Margwelaschwili

Buchtitel

Fluchtästhetische Novelle

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Verbrecher-Verlag

Seitenzahl

132

Preis in EUR

18,50

ISBN

978-3-943167-01-6

Kurzbiographie AutorIn

Giwi Margwelaschwili, geb. 1927 in Berlin, lebt in Tiflis.