Ilse Kilic / Fritz Widhalm, Und wieder vergisst der Tag dann die Nacht

Das Tau der Zeitgeschichte wird aus vielen Fasern geflochten, nur die Vielfalt der Darstellung kann der jeweils komplexen Gesellschaft halbwegs gerecht werden. Freilich beschränkt sich die jeweilige Literaturwahrnehmung oft auf ein paar schwarz-weiße Strähnen, denn wenn schon der Stoff kompliziert ist, soll für schlichte Zeitgenossen wenigstens die Darstellung einfach sein.

Ilse Kilic und Fritz Widhalm gehen mit ihrem Verwicklungsroman von vorneherein der aktuellen Krimi- und Kindheitswelle aus dem Weg und erzählen eine Strickleiter durch die Gegenwart. Dabei ist ein Strang ziemlich zeitnah an den Publikationstermin geknüpft, während der andere Strang so im Abstand von dreißig Jahren aufgearbeitet wird.

Das Jahr 1985 spielt folglich eine wesentliche Rolle, da haben sich nämlich die Protagonisten Jana und Naz so richtig kennengelernt, nämlich so stark, dass sie zusammengezogen sind und das Wohnzimmer gegründet haben. In der Erinnerung umkränzt ist dieses Jahr von allerhand Wanderungen und Reisen nach Griechenland, von der permanenten Veränderung der Arbeit und dem ständigen Updaten der künstlerischen Produktion. Als etwa Naz ein Stipendium kriegt, schmeißt er jegliche Arbeit hin und kümmert sich um die Restaurierung seines expressionistischen und dadaistischen Lebenswerkes.

Aber selbst das reine Referieren der Vergangenheit macht für die Gegenwart ununterbrochen Probleme. Wie geht man mit dem wesentlichen Binnen-I um, das so eindrücklich die Welt als Mann und Frau erklärt? Im Jahre 1985 noch kein Problem, lässt sich heute nichts mehr klar denken ohne dieses Binnen-I.

Andererseits sind die Körper von Jana und Naz inzwischen völlig anders geworden durch Krankheiten und Operationen, so dass auch die Darstellung der Vergangenheit durch diese Eintrübungen und Gebrechlichkeiten relativiert ist. Selbst der öffentliche Code der Lebensführung ist einem ständigen Wandel unterworfen. Damals hätte ein kleiner Jana-Naz auf die Welt kommen sollen, aber er hätte die Welt nicht verbessert, so bleibt der Besuch der Klinik auch heute noch beim Aufschreiben eine relevante Erinnerungs-Größe.

Viele Wörter sind inzwischen mit neuem Sinn angereichert worden, wie etwa das Wort „mehrheitlich“, das Rolf Schwendter mit neuer Wertigkeit hinterlassen hat.

Im Mittelteil des Verwicklungsromans werden die Absätze in Schauzeichnungen aufgelöst, dabei werden die Figuren so vorsichtig auf die unverfängliche Seite gedreht, dass sie auch nackt für Kinder tauglich sind. Die Veränderung der Nacktheit ist wahrscheinlich die größte Veränderung, die so ein Menschenkörper durchmacht.

Mit der Aussicht auf den baldigen zehnten Band der Serie, der dann wohl eine Jubiläumsschleife bekommt, machen Jana und Naz dem Publikum ordentlich Wasser im Mund. Denn die Methode, zwischen Tagebuch und Erinnerung, Literaturkritik und Kulturmanagement, Plot und Standbild ständig zu wechseln, lässt dann im Hintergrund jene Stimmung aufleuchten, die entsteht, wenn sich ironisierende Heldinnen und Helden mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen, stellvertretend für eine ganze Generation.

Ilse Kilic / Fritz Widhalm, Und wieder vergisst der Tag dann die Nacht. Des Verwicklungsromans neunter Teil.
Wien: edition ch 2015, 104 Seiten, 12 €, ISBN 978-3-901015-60-1

 

Weiterführende Links:
Edition ch: Verwicklungsroman
Wikipedia: Ilse Kilic
Wikipedia: Fritz Widhalm

 

Helmuth Schönauer, 05-04-2015

Bibliographie

AutorIn

Ilse Kilic / Fritz Widhalm

Buchtitel

Und wieder vergisst der Tag dann die Nacht. Des Verwicklungsromans neunter Teil

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

edition ch

Reihe

Verwicklungsroman, Teil 9

Seitenzahl

104

Preis in EUR

12,00

ISBN

978-3-901015-60-1

Kurzbiographie AutorIn

Ilse Kilic, geb. 1958 in Wien, und Fritz Widhalm, geb. 1956 in Gaisberg, leben in Wien.