Ingrid Windisch, Die Nächste, bitte!

Selten eine Ermunterung löst Schrecken und Erlösung gleichzeitig aus wie jenes berüchtigte „Die nächste bitte!“

Ingrid Windisch nimmt diese Floskel zum Anlass für Geschichten, die hinter den Krankengeschichten ihrer Patientinnen stehen. Als Hausärztin muss sie zuerst einmal mit dem männlichen Befehl aufräumen, denn noch immer sprechen auch Ärztinnen mit ihren Patientinnen in der männlichen Form „der nächste“.

Der Ausdruck „narrative Medizin“ sagt es vielleicht am besten, was Ingrid Windisch vorhat, den Menschen zu einer persönlichen Geschichte zu verhelfen, worin es letztlich nicht um gesund oder krank geht, sondern um die Akzeptanz des Körpers, dem durch diese Geschichten eine Würde verliehen wird.

Die Schlüsselwörter der Ordination wie Gesundheit, Krankheit, Schmerzen, Schwindel und Schwäche, Medikamente, Gedächtnis, Sterben und Tod werden jeweils aus ärztlicher Sicht vorgestellt, wobei es auch um die sprachliche Geschichte dieser Begriffe geht.

Anschließend kommen mit veränderten Namen Patientinnen zu Wort, und sie fassen ihr Leben oft in markanten Sätzen zusammen. Hinter all diesen Äußerungen steht ein Weltbild, zusammenkomponiert aus einer langen Lebenserfahrung. Oft sind diese Wünsche und Beschwerden meilenweit von der Medizin entfernt, am gesündesten scheinen jene zu sein, die der Medizin mit Skepsis gegenüberstehen.

Gesund ist heute niemand mehr! (27)
Ich möchte nicht, dass ich sterbe und die Leute sagen, ich hätte nichts gehabt. (32)
Die guten Pillen muss man selber zahlen, die schlechten zahlt die Krankenkasse. (74)
Ich kann mich doch nicht umbringen, ich will den Kindern kein schlechtes Bild hinterlassen. (119)
Abendgebet: Lieber Gott, gib mir die Kraft, den Notarzt zu rufen. (125)

Hinter diesen Sätzen steckt das Ungemach eines ganzen Lebens, das Misstrauen gegenüber der Medizin, die Einsamkeit, mit dem Alter zurechtzukommen.
Und dabei gibt es immer wieder Dinge wie Gewalt in der Ehe, wenn etwa eine Achtzigjährige klagt, dass der Mann noch immer über sie herfällt, „das hört nie auf!“ Eine andere Patientin hat mit einem Alzheimer-Mann zu tun, der fernsieht und mittendrin sexuellen Beistand braucht.

„Ich gebe hier keine Antworten, ich stelle Fragen“ (20) erklärt Ingrid Windisch ihre Methode. Die Geschichten sind ein Stück Literatur, das aus dem echten Leben entstanden ist. Erst die Fähigkeit zum Erzählen lässt die Menschen ihr Leben aushalten und mit Würde bewerkstelligen.

Hier deckt sich Ingrid Windisch sich mit dem Psychiater-Schriftsteller Paulus Hochgatterer, der seinen Patienten-Kindern nichts anderes ermöglicht, als dass sie erzählen können. – Eine große Herausforderung an die Literatur!

Ingrid Windisch, Die Nächste, bitte! Geschichten von Frauen im Alter aus der Sicht einer Palliative Care-orientierten Hausärztin.
Innsbruck: Studien Verlag 2011, 204 Seiten, EUR 24.90, ISBN 978-3-7065-4970-7.

 

Weiterführender Link:
Studien-Verlag: Ingrid Windisch, Die Nächste, bitte!

 

Helmuth Schönauer, 26-06-2012

Bibliographie

AutorIn

Ingrid Windisch

Buchtitel

Die Nächste, bitte! Geschichten von Frauen im Alter aus der Sicht einer Palliative Care-orientierten Hausärztin

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Studien-Verlag

Seitenzahl

204

Preis in EUR

24,90

ISBN

978-3-7065-4970-7

Kurzbiographie AutorIn

Ingrid Windisch, geb. 1960 in Pflersch, ist Ärztin in Bozen.