Jürgen Becker, Jetzt die Gegend damals

Erinnern entsteht meist durch Straffen und Eindicken des Gesehenen, letztlich sind es Felder und Ränder, die von einem Geschehnis übrigbleiben.

Nicht umsonst heißen die zeitlosen Bücher Jürgen Beckers einfach „Felder“ (1964) und „Ränder“ (1968). Ein Leben lang müht sich der Autor damit ab, Verfahrensweisen zu finden, wie man die Gedächtnisbilder rekonstruieren könnte, worin die Zeiten, Orte und Vorgänge aufgegangen sind. (17) Eine überzeugende Form dafür ist der sogenannte Journalroman.

Dabei werden die anfallenden Notizen fiktionalisiert, Äußerungen werden etwa einer Person zugeordnet oder aus dem Tagesgeschehen in der Presse wird ein Leitsatz destilliert. Hilfreich ist eine Figur wie in diesem Falle Jörn, der man alles anhängen kann, ohne dass dadurch der Autor zusammenbrechen müsste.

Jörn Winter kennt man aus früheren Erzählungen. Er ist eine Person, die der Verfasser mit seinen eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gewohnheiten versehen hat. Dennoch ist er kein Spiegelbild. (8)

In der Folge geht es um Erinnerungen an Reisen nach Paris, um Romanprojekte, um den ständigen Kampf mit dem Laub des Gartens, um Veränderungen und dem schieren Vergessen. 

Nicht alles, was ich je gesehen habe und sich in meinem Kopf befindet, kann ich finden. (39)

Eine typische Assoziationskette läuft etwa so ab: das Laub muss gerecht werden, es soll in den nahen Wald gebracht werden, dort gab es früher Bombentrichter dafür, die Bombentrichter sind einer Abweichung der Piloten geschuldet. Immer wieder geht es um diese Konturen der Erinnerung, die ständig neu erweckt werden muss.

Die Ortsnamen kannte er noch, die Orte erkannte er kaum wieder. (99)

Auf der Suche nach diesem Erinnerungsvorgang entstehen immer wieder unvergessliche Gedankenbilder, wenn etwa eine Gebilde in der Entfernung als „Gelände mit Erinnerung“ bezeichnet und schließlich als „Zitate von Hügelzügen“ abgelegt wird.

Die Geschichten müssen ungeachtet ihrer Entstehungszeit immer wieder neu erzählt werden, egal ob sie sich am Vormittag im Laub abgespielt haben oder vor Jahrzehnten in Paris, es kommt immer darauf an, was dieses mal nicht miterzählt wird, was dieses mal nicht gesagt wird.

So erklärt sich auch der Sinn dieses Journalromans, es geht um das Gehörte und Gesehene, das durch den Kopf geht und das man wieder vergisst. Es ist nichts wirklich Formuliertes und schon gar nicht für die Nachwelt formuliert.

Das macht die Literatur des Jürgen Becker so sympathisch, man muss sie als Leser unbedingt kennen und aufsuchen. Diese Lust ist das genaue Gegenteil dieses Vorlass-Wahns, der oft ganze Generationen mit Müll zu ersticken versucht. „Jetzt die Gegend damals“ ist genau das, was zeitlos Erhellung schafft.

Jürgen Becker, Jetzt die Gegend damals. Journalroman.
Berlin: Suhrkamp 2015, 161 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-518-42488-9

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Jürgen Becker, Jetzt die Gegend damals
Wikipedia: Jürgen Becker

 

Helmuth Schönauer, 21-12-2015

Bibliographie

AutorIn

Jürgen Becker

Buchtitel

Jetzt die Gegend damals. Journalroman

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Suhrkamp Verlag

Seitenzahl

161

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-518-42488-9

Kurzbiographie AutorIn

Jürgen Becker, geb. 1932 in Köln, lebt in Köln und Odenthal.