Karl-Markus Gauß: Der Alltag der Welt

Der Sinn des Lebens hat viel damit zu tun, wie das Individuum mit der Welt zurechtkommt. Dazu muss man freilich wissen, wie die Welt im Alltagsbetrieb so tickt.

Karl-Markus Gauß schreibt an und für sich Tag und Nacht die Lage der Welt als Individuum mit, alle paar Jahre verknüpft er das Leben eines Einzelnen mit der Flut von Nachrichten und Ereignissen. Der aktuelle Journal-Band „Der Alltag der Welt“ kümmert sich um plus minus 2012, als unverwechselbare Ereignisse tauchen Fukushima, Strauss-Kahn oder das Bettler-Problem auf. Die Kunst besteht nun nicht in der Aufzählung von Ereignissen, sondern in den schier unendlichen Verknüpfungsmöglichkeiten, so dass hintennach etwas wie eine Logik der Geschehnisse herauskommt.

Für diesen Band sind ein paar raffinierte Erzählstränge angelegt. Einmal gibt es fünf Kapitel, damit alles wie eine griechische Tragödie ausschaut. Kleine Liebesgeschichten und die beeindruckende Serie „Sternstunden des Scheiterns“ brechen großes Schicksal auf begreifbare Erzählungen herunter. Dem Jahr werden schließlich noch fünf Partezettel und ein Sack mit politischen Abfällen hinterhergeschickt.

Stetig geht es um das Lesen und Schreiben, Hans Weigel und Hermann Hakel „richten sich den Provinztrampel Ingeborg Bachmann her“, Jakob Philipp Fallmerayer erzählt von jenem Orient, der jetzt ganz Europa zu schaffen macht, Georg Kreisler ist in seiner Endphase so sauer auf alles, dass er ein Abendessen lang nur über Zeitgenossen herzieht und keine einzige Gegenfrage zulässt.

Um die Menschen im Strudel der neuen Informationstechniken kümmert sich der nächste  Schwerpunkt. Jemand stellt seine Prostata-Operation ins Netz, der Hochgeschwindigkeits-Redakteur Armin Wolf macht einen Furz-Tweed in Echtzeit, eine Witwe erfährt den pathologischen Befund ihres verstorbenen Mannes als Hightech-Scann, der den Verstorbenen als Haufen voller Defekte darstellt.

Die gesellschaftlichen Spielregeln haben schließlich jedes menschliche Maß unterschritten. Ein Exekutor rettet dem Delinquenten zweimal das Leben, das sich dieser angesichts der Amtshandlung nehmen will, ehe er ihn dann endlich delogieren kann. Eine Frau hält einen Bankräuber auf, weil das gestohlene Geld ja der Bank gehört. Die Banken in Spanien delogieren in Höchstzeiten der Blase ganze Stadtteile und siedeln die Vertriebenen in Sichtweite zu den verlorenen Wohnungen in Zelten an, während die Wohnungen leer wie eine Blase bleiben.

Ein älterer Herr schickt seine Manuskripte an den Autor und wünscht, unerkannt die literarische Bühne verlassen zu dürfen. Der Autor will über Bilder zu internationalen Eizellen und rumänische Spermien schreiben, um das Perverse einer globalisierten Zeugung zu dokumentieren, aber er kriegt den Auftrag, über ein Bild von Velázquez zu schreiben, das ist sicherer und dem Publikum eher zuzumuten.

Gegen Ende des Journals korrigiert der Autor die Fahnen für das nächste Journal, damit auch die Reflexionsliteratur in sich verschränkt wird. So entsteht aus der kaum überschaubaren Logik der Welt ein Lesefaden, den man als Leser mit Genugtuung abrollen darf. Dabei kommt man verlässlich ans Ziel, nämlich hinaus aus dem dargestellten Jahr und hinein ins nächste.

Karl-Markus Gauß vermittelt trotz allen Horrors der Realo-Geschichten eine Verlässlichkeit, die einen nicht verzweifeln lässt. Lese- und Schreibwege sind auf keinem Navi abgebildet, sie sind nur „boden-sicher“ zu begehen, wenn man sich auf sich selbst in der Welt einlässt.

Karl-Markus Gauß, Der Alltag der Welt. Zwei Jahre, und viele mehr
Wien: Zsolnay 2015, 332 Seiten, 23,60, ISBN 978-3-552-05733-3

 

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Karl-Markus Gauß: Der Alltag der Welt
Wikipedia: Karl-Markus Gauß

 

Helmuth Schönauer, 21-07-2015

Bibliographie

AutorIn

Karl-Markus Gauß

Buchtitel

Der Alltag der Welt. Zwei Jahre, und viele mehr

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Zsolnay Verlag

Seitenzahl

332

Preis in EUR

23,60

ISBN

978-3-552-05733-3

Kurzbiographie AutorIn

Karl-Markus Gauß, geb. 1954 in Salzburg, lebt in Salzburg.