Olga Martynova, Von Tschwirik und Tschwirka

Lyrik ist für manche Literaturliebhaber der Inbegriff an Fiktion und Dichtung, für die pragmatischen Literaturproduzenten freilich oft das, was beim Dichten übrig bleibt.

Olga Martynova hat für ihren Roman „Sogar Papageien überleben uns“ die Phantasie dermaßen extrem ausgereizt, dass manche Teile nicht mehr im Roman Platz hatten. Diese von der Logik fortgesprengten Poesie-Kapseln sind schließlich neben einem Text über die Oberiuten und dem russischen Dichter Alexander Wwedenskij (1904-1941) als Gedichte von Tschwirik und Tschwirka in der Literatur gelandet.

Das einzig Gesicherte über diese Art der Lyrik ist im Vorspann niedergelegt.

Tschwirik und Tschwirka verflogen sich, gerieten auf die Erde und blieben hier für eine Weile. Was sie gesehen haben, weckte in ihnen viel Neugier und Mitleid. Ihre Versuche, auf sich aufmerksam zu machen, hatten selten Erfolg. Am ehesten wurden sie von den Vögeln wahrgenommen, weil sie selbst etwas Vogelartiges an sich haben. (8)

So ein echtes Vogelgedicht ist dann auch mit der magischen Headline überschrieben: „Die Vögel rasieren sich die Achselhöhlen vor den November-Feiertagen.“

Manchmal setzen die Gedichte mit einer geheimnisvollen Formulierung ein „Durchs offene Fenster schreitet der Duft von Flieder“ (22), dann wiederum gibt es schmerzhafte Erfahrungen mitten im Alltag:

Wenn du vom Fahrrad fällst, weißt du auf einmal, / zwischen dir und der Welt ist das Fleisch, das so fein ist so kapriziös, dass es der groben und abgehärteten Seele / ein einziger Vorwurf ist. (24)

Die Seele lässt sich am ehesten mit dem lyrischen Vogel-Bild der Vergänglichkeit ausloten, dabei huscht das lyrische Ich über eine innere Geographie, die oft nur aus Himmelsrichtungen besteht.

Und es kommt ein Vogeltag / Im fremden Heimatland. / Und mein Freund geht fort / Nach West und Ost. (34)

Aus der Geschichte der Oberiuten, einer Künstlervereinigung um 1930 in Leningrad, sticht vor allem die Würdigung Daniil Charms hervor, der es geschafft hat, dass er selbst während der Leningrader Blockade durch die Deutschen noch von seinen Mitgenossen wegen Kunst ins Gefängnis gesteckt wird. „Das Leben hat über den Tod gesiegt auf eine mir unbekannte Weise.“ (70)

Olga Martynovas Texte sind ausufernde Phantasien, die vor allem eines im Sinn haben: Das Gefüge einer geordneten Fiktion zu sprengen. Als Komplementärmenge zur Prosa besingen diese Vogel-förmigen Figuren jenes Reich, das sich nach dem Zuschlagen eines Romans allmählich im Leser auftut. Sozusagen eine Art Meta-Roman-Lyrik.

Olga Martynova, Von Tschwirik und Tschwirka. Gedichte. A. d. Russ. von Elke Erb und Olga Martynova.
Graz: Droschl 2012, 93 Seiten. EUR 16,-. ISBN 978-3-85420-831-0.

 

Weiterführender Link:
Droschl-Verlag: Olga Martynova, Von Tschwirik und Tschwirka

 

Helmuth Schönauer, 19-12-2012

Bibliographie

AutorIn

Olga Martynova

Buchtitel

Von Tschwirik und Tschwirka

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Droschl-Verlag

Übersetzung

Elke Erb und Olga Martynova

Seitenzahl

93

Preis in EUR

16

ISBN

978-3-85420-831-0

Kurzbiographie AutorIn

Olga Martynova, geb. 1962 in Krasnojarsk, lebt in Frankfurt/M.