Orhan Pamuk, Der naive und sentimentalische Romancier

Eine Faustregel der Literatur besagt, dass ein Roman erst dann gelungen ist und funktioniert, wenn es eine Theorie dazu gibt. Nun sind die Romane des Nobelpreisträgers Orham Pamuk längst Weltliteratur und seine Romane funktionieren auf allen Kontinenten der Erde, wenn man nur an sein grandioses Werk „Schnee“ denkt“.

Dennoch ist es aufschlussreich zu lesen, was der Meister im Zuge einer Poetik-Vorlesung in England über den Roman zu sagen hat.

Orhan Pamuk kümmert sich eher um den Autor als um den Leser, das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass er ständig als Autor gefragt ist und nicht als Leser. Unter den Aspekten literarischer Logik, Ausstattung von Figuren, Entwicklung von Handlung und Kommentar zur Zeitgeschichte laufen die Überlegungen auf bemerkenswerte Kern-Aussagen hinaus.

# Der Roman ist international und interkontinental. Wo er auftaucht, hat er immer das bisherige literarische Geschehen einer Kultur verdrängt.

# Wer verstehen will, wie ein Roman funktioniert, muss jene Stelle aus „Anna Karenina“ lesen, wo sie aufgewühlt von der erotischen Begegnung im Zug von Moskau nach St. Petersburg sitzt, liest, aber nicht lesen kann. Diese Mischung aus lesen und nicht lesen können, macht den Roman aus.

# „Das Kerngeschäft des Romans besteht darin, dass er Alltäglichkeiten hervorhebt und mit dem Medium der Phantasie in neue Zusammenhänge bringt.“ (112)

Orhan Pamuks Lieblingsidee freilich ist die Verknüpfung von Literatur und Museum. Ein Roman gleicht nach dieser Theorie einem Museum, Dinge sind aus der Zeit gegriffen und in einen neuen Kontext gestellt, Ideen verkörpern sich durch Insignien, Thesen lassen sich durch Zeichen und Formeln darstellen. Im Roman „Das Museum der Unschuld“ ist dieses Konzept fiktional ausgebreitet, das kürzlich in einem „echten“ Museum in Istanbul verwirklicht werden konnte.

Orhan Pamuks Werk lässt sich auch als Stück Literaturgeschichte lesen, die zitierten Werke entstammen jeweils dem nationalen Kanon, dadurch kann ein großes Publikum angesprochen werden. Freilich entsteht dadurch eine recht konservative Literaturauffassung, denn Innovationen oder radikale Positionen haben in dieser Welt der Klassiker keinen Platz.

So ist denn auch der Titel „Der naive und sentimentalische Romancier“ eine Hommage an Schiller und die darauf aufgebaute Klassik. Als Leser lassen sich in diesen Begriffskosmos die eigenen Leseerfahrungen durchaus glaubwürdig einbauen, wiewohl natürlich der weltmännische Gestus, mit dem der Nobelpreisträger durch die Kontinente jagt, nicht gerade von wissender Bescheidenheit zeugt.

Orhan Pamuk, Der naive und sentimentalische Romancier. A. d. Engl. von Gerhard Meier. [Orig.: The naive and the sentimental novelist, Cambridge 2009].
München: Hanser 2012. 172 Seiten. EUR 17,40. ISBN 978-3-446-23884-8.

 

Weiterführende Links:
Hanser-Verlag: Orhan Pamuk, Der naive und sentimentalische Romancier
Wikipedia: Orhan Pamuk

 

Helmuth Schönauer,24-07-2012

Bibliographie

AutorIn

Orhan Pamuk

Buchtitel

Der naive und sentimentalische Romancier

Originaltitel

The naive and the sentimental novelist

Erscheinungsort

München

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Hanser-Verlag

Übersetzung

Gerhard Meier

Seitenzahl

172

Preis in EUR

17,40

ISBN

978-3-446-23884-8

Kurzbiographie AutorIn

Orhan Pamuk, geb. 1952 in Istanbul, lebt in Istanbul.