Pierre Chazal, So etwas wie Familie

Im kulturell ausgedünnten Tirol der 1950er Jahre gilt die französische Kultur als Befreiung und Fenster zur Welt, die aufkeimenden heimischen Künste werden von französischen Strömungen geleitet, Grete und Josef Leitgeb etwa übersetzen den kleinen Prinzen von Saint-Exupéry ins Deutsche. Mittlerweile ist die Frankophilie ziemlich abgeebbt und es fällt geradezu auf, wenn der Tiroler Wolfgang Gösweiner einen französischen Gegenwartsroman übersetzt.

In Pierre Chazals Roman „So etwas wie Familie“ geht es um angewandtes Familienleben im Großen und im Kleinen. Als sich die drogensüchtige Hélène in den Suizid stürzt, hinterlässt sie ihren achtjährigen Sohn Marcus dem Gemüsehändler und Ich-Erzähler Pierre. Dieser versucht als sogenannter „Patenonkel“ dem Kind eine Perspektive zu geben und es vor allem besser zu machen als sein Vater, der früher von der Couch aus im Dauer-Suff seine Kindheit gesteuert hat.

Unterstützt wird der Erzähler von diversen losen Freundinnen und Freunden, die ein großes Patchwork-Gebilde auslegen, um dem Leben pragmatisch zu trotzen. Mit Fabienne gelingt sogar etwas wie eine Familie, dennoch zweifeln sie alle an ihren Rollen.

Nun waren wir natürlich kein richtiger Vater, keine richtige Mutter und kein richtiger Sohn. Aber das kümmerte uns nicht. (111)

Beim Umblättern ins zweite Kapitel ist plötzlich alles anders. Der Erzähler sitzt im Gefängnis unter der großen Familie der Gestrandeten und Gesetzlosen. Sex, Gewalt, Zynismus und Widerstand prägen die neue Überlebenskultur, „halb Afrika sitzt hinter Gittern“. (155)

Am Leben gehalten wird Pierre durch die Post seines Ziehsohnes draußen, der von seinen Schulerfolgen berichtet. Der Anwalt empfiehlt ihm die Lektüre von Camus „Der Fremde“, in dem alles drin steht, was ein Eingesperrter wissen muss. Wir Leser wollen vor allem wissen, warum Pierre eingesperrt ist, er soll seinen Vater vom Balkon in den Tod gestürzt haben, heißt es.

Familienverhältnisse jeglicher Art bedeuten immer auch Filz, der sich nur schwer auflösen lässt. Pierre ist wieder frei und macht einen Badeurlaub mit seinem Sohn. Dieser wird langsam erwachsen und stellt die entscheidenden Fragen nach seiner Herkunft und dem Beziehungsknäuel, in das er hineingeboren ist.

In einer reinigenden Erklärung würgt es dem Erzähler noch einmal die entscheidenden Stunden ins Bewusstsein. Der Vater verhöhnt ihn und gesteht, dass auch er ein Verhältnis mit der drogensüchtigen Schlampe Hélèn gehabt hat. In einer Wutattacke stürzt sich Pierre auf den Vater, aber das Balkongeländer ist schwach und reißt den Bösewicht dramaturgisch einwandfrei in die Tiefe.

In Pierre Chazals Roman definiert sich Familie als Antithese zu den diversen Vorlagen, die in romantischen Sendeformaten ausgegeben werden. Familie ist das, was durch den Alltag gefiltert von den Träumen übrig bleibt. Eine kühle, hilfreiche Einschätzung des Familien-Getues und obendrein sehr gegenwärtig.

Pierre Chazal, So etwas wie Familie. Roman. A. d. Französ von Wolfgang Gösweiner. [Orig.: Marcus, Paris 2012].
Wien: Deuticke 2015, 234 Seiten, 19,50 €, ISBN 978-3-522-06297-9

 

Weiterführender Link:
Verlag Zsolnay Deuticke: Pierre Chazal, So etwas wie Familie

 

Helmuth Schönauer, 25-08-2015

Bibliographie

AutorIn

Pierre Chazal

Buchtitel

So etwas wie Familie

Originaltitel

Marcus

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Deuticke Verlag

Übersetzung

Wolfgang Gösweiner

Seitenzahl

234

Preis in EUR

19,50

ISBN

978-3-522-06297-9

Kurzbiographie AutorIn

Pierre Chazal, geb. 1977 in Lille, lebt in Paris.<br />Wolfgang Gösweiner, geb. 1978 in Schwaz, lebt als Übersetzer in Innsbruck.