Rainald Goetz, Johann Holtrop

Eine Hauptaufgabe der Literatur ist es, die Zeitgeschichte in diskussionswürdige Geschichten zu verpacken, um dann die Geschichtsforschung auf den Plan zu rufen.

Rainald Goetz nennt dieses Unterfangen in seinem Roman über den Wirtschaftsboss Johann Holtrop einen Abriss der Gesellschaft, was durchaus doppelsinnig zu verstehen ist als Dekonstruktion und Überblick.

Dieser Roman über die sogenannten Nuller Jahre hält sich in den drei Kapiteln an die wichtigsten Parameter des Geschichte-Aufarbeitens: Orte (1998), Taten (2002),Tage (2010). Diese drei Oberbegriffe des Wirtschaftens bestimmen auch den Helden Holtrop, der sich immer an den Zeitgeist anpasst, diesen menschenverachtend vorantreibt und am Ende selbst Opfer des Systems wird.

Bemerkenswert ist die Brutalität des Systems, menschliche Regung und Wirtschaft vertragen sich nicht, die einzige Emotion, die erlaubt ist, ist das Nicken bei der Zustimmung zu einem Investment oder einer Kündigung, was in der modernen Wirtschaft das Gleiche ist. So ist die erste Aktion, die Holtrop als Vorstandsvorsitzender einer Firma setzt, seinen bisherigen Freund und Partner zu kündigen. Diesem wird zur gleichen Zeit, als er das Dienstmail mit der Kündigung kriegt, der Zugang zu seinen Daten gesperrt, das System reagiert rasch und unerbittlich.

Aber auch Holtrop selbst wird gekündigt. Nachdem der Standortvorteil (Orte) ausgeschöpft und die Belegschaft reduziert ist (Taten) bleiben dem Initiator dieser Maßnahmen nun genug Tage, um das Leben neu organisieren.
Immer der Blase nach, heißt die Parole, weshalb der Held, dessen Name ein wenig an hopp oder tropp erinnert, sofort nach London geht um ins große Investment einzusteigen.

Letztlich frisst auch dieses Investment-System seine Betreiber, Holtrop macht Bankrott und landet am Ende der Tage noch vor Gericht.

Bei all diesen Umtrieben geht natürlich auch das Familienleben in die Brüche und wird fallweise wieder notdürftig zusammengeflickt. Da wirtschaftliche Maßnahmen im privaten Bereich nicht greifen, brechen stets unerwartet Katastrophen aus, die es mit noch mehr Wirtschaftsmaßnahmen zu reparieren gilt. Das glaubt zumindest Johann Holtrop, der stets von der Auswirkung seiner Maßnahmen überrascht wird und dem oft nur noch poetische Beschreibungen des Desasters bleiben, „der Flair einer avanciert heruntergewirtschafteten Dying City“(61).

Rainald Goetz schickt seinen Helden ins Unglück, denn das System frisst seine Helden, zuvor jedoch fungiert Holtrop als Botenstoff und löst Reaktionen aus, denen er nicht gewachsen ist. Überhaupt erzählt der gelernte Mediziner Rainald Goetz oft in den Kategorien des Medizinischen Bulletins, wohl wissend, dass bei dieser Methode immer nur Antworten auf jene Fragen kommen, die auch gestellt werden. Über die Nuller Jahre werden in diesem Roman tausende Fragen gestellt, und nur allmählich kommt ein Bild darüber heraus, zerrissen, blasig, leer, wie die Nuller Jahre eben sind.

Rainald Goetz, Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman.
Berlin: Suhrkamp 2012, 343 Seiten, EUR 20,60, ISBN 978-3-518-42281-6.

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp-Verlag: Rainald Goetz, Johann Holtrop
Wikipedia: Rainald Goetz

 

Helmuth Schönauer, 01-01-13

Bibliographie

AutorIn

Rainald Goetz

Buchtitel

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Suhrkamp

Seitenzahl

343

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-518-42281-6

Kurzbiographie AutorIn

Rainald Goetz, geb. 1954 in München, ist Mediziner und Schriftsteller.