Serhij Zhadan, Mesopotamien

Ein gelungenes Cover vermag sinnlich auf das Kernthema eines Buches hinzuweisen. Wenn selbst der Titel „Mesopo / tamien“ in zwei Teile zerlegt ist, vermag man sich schon auszumalen, welche Zerrissenheit einen in diesem Zweistromland erwarten wird.

Serhij Zhadan beschreibt in seinem Zweistromreich den Ablauf der Geschehnisse in ausgerissenen Partikeln. Selbst die literarische Textsorte ist ein Mesopotamien, im ersten Teil gibt es Geschichten und Biographien in Prosaform, im zweiten Teil kommt pure Lyrik zum Vorschein als Erläuterungen und Verallgemeinerungen.

Hauptdarstellerin in diesem „Beinahe-Roman“ ist eine archaisch-babylonisch in sich selbst versickerte Stadt, die man probehalber mit Charkiw gleichsetzen kann. Neun Männer erzählen ihre Geschichte oder lassen über sich erzählen, dabei sind sie oft nur Randerscheinungen, weil es manchmal für die Helden nicht einmal mehr reicht, Hauptfigur einer Geschichte zu sein.

Die Berufe sind wechselnd und von kurzer Dauer, am ehesten reicht es noch zum Überleben, wenn man einen Kiosk aufmacht und sich als Boxer durchschlägt. Das meiste ist so bedeutungslos, dass man es nicht erzählen muss, wozu sich mit den Geschichten der Toten herumschlagen, heißt es, denn die Akteure sind alle mit einem Fuß im Jenseits.

Die Erzählanlässe sind ein letzter Versuch, etwas wie Ordnung und Gebräuche in die amorphe Überlebensmasse zu kriegen. Vierzig Tage nach dem Tod wird jemand betrauert, in einer anderen Szenerie explodiert eine Hochzeitsgesellschaft, ein Junge wird von der Mutter ausquartiert und bei einer befreundeten Juristin untergebracht, in der letzten Erzählung probiert es jemand in Amerika, und fliegt offensichtlich wieder heim, weil er auch dort nicht Fuß fassen kann.

Alkohol und Drogen bieten einen verlässlichen Schutz gegen das Schwammige der Gegenwart. Freilich, gerade wenn man ein bisschen vergessen hat, wird man regelmäßig von Kriminellen herausgeprügelt. Dementsprechend trocken sind auch die Dialoge. „Ist was passiert? – Nee, ich wurde bloß eine Nacht lang gefickt.“ (239)

Die Männer haben alle einen sexuellen Dachschaden, pirschen sich wochenlang an die falschen Frauen heran, verwechseln Gewalt mit Liebe und halten sich an die gegenderte Parole: „Prostituierte sind wie Boxer, ihre Karriere ist steil und kurz.“ (204)

Dabei schimmern immer Reste von Erotik durch, der Wind kühlt am liebsten die Waden einer Frau, in der Badewanne schimmern die Knie einer Frau wie Monde im Schmutzwasser.

Wenn die Helden gar nichts erleben, krank sind oder zusammengeschlagen, kommt ein wenig die Stadt in den Erzählgenuss. „Im Juli ist das Gebüsch besonders vernachlässigt.“ Es sind diese Sätze wie Abfall, die im Gedächtnis hängen bleiben.

In der lyrischen Sequenz werden manche „Heldentaten“ noch einmal erzählt. Zu Ellipsen verkürzt, mit Traumfäden umsponnen taucht die Stadt des Zweistromlandes auf: „Viel zu hoch / greifen deine Finger, / um die Leere einzufangen.“ (333) – Hinter diesen Kostümresten der Poesie vergisst man beinahe das Chaos von Mesopotamien.

Serhij Zhadan, Mesopotamien. [Roman.] A. d. Ukrain. von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr. [Orig.: „Mesopotamija“, Charkiw 2014].
Berlin: Suhrkamp 2015, 362 Seiten, 23,60 €, ISBN 978-3-518-42504-6

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Serhij Zhadan, Mesopotamien
Wikipedia: Serhij Schadan

 

Helmuth Schönauer, 16-09-2015

Bibliographie

AutorIn

Serhij Zhadan

Buchtitel

Mesopotamien

Originaltitel

Mesopotamija

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Claudia Dathe / Juri Durkot / Sabine Stöhr

Seitenzahl

362

Preis in EUR

23,60

ISBN

978-3-518-42504-6

Kurzbiographie AutorIn

Serhij Zhadan, geb. 1974 in Starobilsk, lebt in Charkiw.