Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden

„Rosalies Gesicht war in Falten gelegt, die Falten röteten sich, ihre weißen Ränder zerfielen, der Ekel wurde sichtbar, obwohl es nicht zu Rosalies Wesen passte, solche Gefühle zu zeigen, sie war ein lachlustiges Mädchen, aber nein, der Ekel war stärker, er war unüberwindlich.“

Der Roman „Als die Tauben verschwanden“ beschreibt den fortlaufenden Werdegang zweier junger estnischer Männer und ihren Frauen in der Zeit der sowjetischen und deutschen Besatzung im vergangenen Jahrhundert bis herauf in das Jahr 1965, der eine ein Kämpfer, der andere ein sich jeder Macht anbiedernder Opportunist - Verrat und Hintertücke im Kampf mit Loyalität und Liebe.

Oksanen verarbeitet Geschichtliches, Biographisches mit Fiktion, baut ihre Charaktere um historisch Nachvollziehbares herum auf – und schafft es dennoch auch über ihre noch so harschen Worte einen Schleier aus Poesie zu legen.

Das Buch bedient sich – ähnlich wie Drehbuchautoren in Spielfilmen es tun– kalendarischer Zeitsprünge nach vorn oder rückwärts. Seine Handlung beginnt 1941, also in jenem Jahr, in dem nach dem Ribbentropp-Molotow-Pakt, der 1939 zwischen Hitler und Stalin als Nichtangriffspakt vereinbart wurde und die baltischen Staaten auf die zwei Einflusssphären UdSSR und Hitler-Deutschland aufteilen sollte, bis das nationalsozialistische Deutschland mit dem „Unternehmen Barbarossa“ im Juni 1941 seinen Angriffskrieg im Osten auch gegen die Sowjets fortsetzte.

Noch hatten sowjetische Soldaten und der NKWD Estland im Griff. In den wenigen Monaten ihrer erstmaligen Besatzungszeit hatte die sowjetische Geheimpolizei schon ordentlich „aufgeräumt“ und wirkliche oder vermeintliche politische Gegner zu Zehntausenden entweder exekutiert oder nach Sibirien deportiert. Diese stalinistischen „Säuberungen“ hatten natürlich zur Bildung verschiedenster Widerstandsgruppen geführt, die im Guerillakampf die Besatzer zu bekämpfen und zu sabotieren trachteten.

Das Privateigentum der Bauern, Höfe und Gründe, waren „kolchosiert“ worden und viele der Enteigneten verschwanden so wie andere politische Gegner in den Straflagern Russlands. So war es denn auch kein Wunder, dass der Großteil der Esten die deutsche Wehrmacht und die nachrückenden Sonderkommandos anfänglich als Befreier von den sowjetischen Besatzern empfanden und die Bereitschaft zur Kollaboration groß war.

Hier setzt die Handlung an – mitten in die Kämpfe der Widerstandskämpfer, den „Waldleuten“, die in Finnland von Engländern ausgebildeten worden sind. Im Mittelpunkt stehen die beiden Protagonisten Roland und sein zwielichtiger Cousin Edgar. Edgar Parts, die Hauptfigur des Romans - hatte zuvor in der Roten Armee gekämpft – wechselt aber angesichts der vorrückenden deutschen Truppen die Seiten und versorgt nach dem „Anschluss“ die deutschen Sonderkommandos mit Informationen über Kommunisten und Sowjetfreunde, zuerst heimlich, später dann ganz offen.

Roland hingegen erkennt die Doppelbödigkeit der Deutschen und weiß, dass deren Unterstützung den estnischen Nationalisten keinen eigenen Staat bescheren wird. Er bleibt weiterhin bei der Guerilla und organisiert als altruistischer uneigennütziger Schlepper Flüchtlingstransporte in den Westen für Juden und Feinde des jetzigen Systems. Rosalie, die große Liebe Rolands, ertappt Edgar bei seinem verräterischen Treiben mit den deutschen Besatzern. Man entdeckt ihre Leiche, hat aber kein Interesse an der Aufdeckung ihres Todes – vermutlich wurde sie von dt. Soldaten ermordet.

Juudit, die Frau Edgars, versucht in der Zeit der deutschen Besatzung, ein neues Leben zu beginnen. Eigentlich hasst sie ihren Mann und möchte ihn loswerden – und er sie ebenso, denn nach der Rückkehr aus dem Wald gibt er sich ihr nie zu erkennen, ja er lässt sich sogar verleugnen, nur um Konflikten mit ihr aus dem Wege zu gehen. Juudit verliebt sich in Hellmuth Hertz, einem SS-Hauptsturmführer. Sie glaubt, der Armut entkommen zu sein und genießt das Leben in der deutschen Offiziersgesellschaft. Auf den Speiseplänen der Kantine steht immer wieder „Gebratene Tauben“, denn das Offizierschor will nicht auf Fleisch verzichten. Und so verschwinden die Tauben in den Mägen der Deutschen.

Edgar – er hat sich umbenannt von Parts nach dem „arischen“ Fürst - möchte ebenfalls Karriere machen und arbeitet sich als Spitzel in der deutschen Vernichtungsmaschine empor. Er möchte Geschäfte machen in den von den Deutschen errichteten Arbeitslagern. Hier wird die Arbeitskraft der Internierten zur Ausbeutung von Ölschiefer ohne Rücksicht auf Verluste benützt – die klassische menschenverachtende Wirtschaftsstruktur der SS zeigt sich auch hier so wie etwas weiter westlich in Auschwitz.

Doch es kommt anders – die Wehrmacht muss sich nach den harten Wintern und den verlorenen Schlachten zurückziehen und binnen weniger Wochen ist Estland wiederum der Roten Armee ausgeliefert. Hertz ist tot, Roland verschollen und neuerliche Deportationen und Massaker bringen tausende Esten zum zweiten Male in die GULAGS oder in den Tod.

Wir begegnen Edgar das nächste Mal im Jahre 1963. Er heißt nun wieder Parts und arbeitet als amtlich bestellter Schriftsteller und Spitzel für den KGB in Tallin. Sein Hauptziel ist es mit seinem Machwerk – einer zusammengebastelten Rückschau auf erfundene oder tatsächliche Grausamkeiten der Nationalsozialisten - die Aufmerksamkeit der sowjetischen Granden zu erhaschen und mit einer möglichen hohen Auflage seines vom Staat initiierten Buches seine eigene finanzielle Situation zu verbessern. Sein Opportunismus ist also ungebrochen.

Sofi Oksanen bedient sich einer verständlichen Sprache ohne langatmige verschachtelte Sätze. Die Zeitsprünge in den Handlungen wirken nicht irritierend sondern veranlassen mich als Leser weiter zu forschen und zu Fragen „Was ist hier eigentlich geschehen?“, „Wohin führt das Leben Edgars, Juudit und Roland?“ Gräuel und Grausamkeiten werden nur angedeutet, aber nicht explizit als reißerisches Stilmittel eingesetzt. Doch ein wenig Wissen über das europäische Zeitgeschehen des 20. Jahrhunderts schaden nicht. Nicht viel wusste ich bisher über das Baltikum und die harten Zeiten während der Besatzungen – mein Interesse daran wurde jedenfalls geweckt.

Einzig die psychologischen Hintergründe für Edgars so entsetzlichen Opportunismus fehlten mir ein wenig. Worin liegen die Ursachen, dass ein Einzelner sein Gewissen und seine Moral dermaßen verlieren kann? Gesamtbewertung: Unbedingt lesen

Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden. Übers. v. Angela Plöger [Orig. Titel: Kun kyyhkyset katosivat]
Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch 2014, 432 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-462-04661-8

 

Weiterführende Links:
Verlag Kiepenheuer & Witsch: Sofi Oksanen, Als die Tauben verschwanden
Wikipedia: Sofi Oksanen

 

Dieter Draxl, 02-12-2014

Bibliographie

AutorIn

Sofi Oksanen

Buchtitel

Als die Tauben verschwanden

Originaltitel

Kun kyyhkyset katosivat

Erscheinungsort

Köln

Erscheinungsjahr

2014

Verlag

Kiepenheuer & Witsch

Übersetzung

Angela Plöger

Seitenzahl

432

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-462-04661-8

Kurzbiographie AutorIn

Sofi Oksanen wurde am 7. Januar 1977 in Jyväskylä, Finnland, als Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters geboren. Sie spricht und liest Estnisch, schreibt aber in Finnisch. Sie studierte Literaturwissenschaften und Dramaturgie an den Universitäten von Jyväskylä und Helsinki.