Varujan Vosganian, Buch des Flüsterns

Manchmal erzählen Bücher nicht nur die Geschichte von einzelnen Personen sondern gleichzeitig dazu den Sound eines Volkes.

Varujan Vosganian erzählt von der Geschichte, Verfolgung, Überleben und Eliminierung der Armenier im 20. Jahrhundert. Für dieses Mammut-Projekt gegen das Vergessen verwendet er einen Ich-Erzähler, der als kollektives Kind unter dem Tisch lauscht, was oben die Ahnen, Veteranen und Überlebenden zu sagen haben. Dieses Kind sitzt an jenem Bottich der Geschichte, aus dem gerade der erinnerte Stoff abfließt gegen das Vergessen.

Aus den zusammengelauschten Geschichten, der Lektüre von Dokumenten und den unter der Hand weitererzählten Vorfällen ergibt sich das Buch des Flüsterns.

In meiner Kindheit lebte ich in einer Welt des Flüsterns. (30) Im Buch des Flüsterns sind die Namen der Toten aufgeschrieben. (36) Das Buch des Flüsterns ist kein Geschichtsbuch, sondern eines der Bewusstseinsstände. (302)

Immer wieder wird in den zwölf Kapiteln auf dieses Flüstern eingegangen, welches zwischen Auslöschung und Selbstbewusstsein fein dosiert manchmal das Überleben sichert.

Dabei werden einzelne Schicksale erzählt, wie Menschen auswandern, mit kleinen Geschäften das Überleben sichern, von den Deportationen nach Sibirien und dem ständigen Herumgetrieben-Werden durch alle Gebirge Kleinasiens.

Die Armenier meiner Kindheit starben in wohlgeordneter Folge.

Von ihnen bleibt meist nur ein Foto, das mit den anderen Bildern der Verstorbenen zu einem seltsamen Kartenspiel ausgelegt wird.

Die Geschichte Armeniens trägt viele makabre Züge, einmal wird sie im Roman als die Geschichte des Konvois beschrieben.

Ein freies Volk begibt sich in keinen Konvoi. (129)

Als Leser ist man überwältigt, was an Geschichte offensichtlich nur geflüstert werden darf, und während der Lektüre ertappt man sich dabei, wie man selbst in diesen - sich nach Gefahren umschauenden - leisen Ton verfällt.

Noch immer ist es gefährlich, auf den Genozid der Armenier hinzuweisen. Dabei zeigt die Aktenlage, dass etwa die Generäle der österreichisch-ungarischen Monarchie über jeden Schritt gegen die Armenier informiert waren und offensichtlich generalstabsmäßig in einen Flüsterton verfallen sind.

Das Buch des Flüsterns wühlt mit seinem Stoff auf, es zeigt darüber hinaus aber beeindruckend, was Literatur auszulösen vermag, nämlich das Wissen um etwas und schließlich auch das Bewusstsein zu verändern. – Ein stilles umwälzendes Buch das unweigerlich den Wind der Veränderung mit sich bringt.

Varujan Vosganian, Buch des Flüsterns. Roman. A. d. Rumän. von Ernest Wichner. [Orig.: Cartea soaptelor, Bukarest 2009].
Wien: Zsolnay 2013, 508 Seiten, EUR 26,80, ISBN 978-3-552-05646-6.

 

Weiterführende Links:
Hanser Verlag: Varujan Vosganian, Buch des Flüsterns
Wikipedia: Varujan Vosganian

 

Helmuth Schönauer, 12-12-2013

Bibliographie

AutorIn

Varujan Vosganian

Buchtitel

Buch des Flüsterns

Originaltitel

Cartea soaptelor

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Zsolnay Verlag

Übersetzung

Ernest Wichner

Seitenzahl

508

Preis in EUR

26,80

ISBN

978-3-552-05646-6

Kurzbiographie AutorIn

Varujan Vosganian, geb. 1958 in Craiova, Kindheit in Focsani, ist rumänischer Wirtschaftsminister.<br />Ernest Wichner, geb. 1952 in Guttenbrunn / Banat, ist Leiter des Literaturhauses in Berlin.