Didier Goupil, Endstation Ritz

Buch-CoverWenn sich eine Lebensgeschichte über ein Jahrhundert hinzieht, kann man auf jeden Fall von einem Roman sprechen, auch wenn der Umfang vielleicht eher an ein Prosagedicht erinnert.

Didier Goupil erzählt vor allem vom Vergessen, Versickern, Verbleichen der Zeit. Aus diesem Grund sind fallweise nur die rechten Seiten bedruckt, die linken sind quasi schon der Zeit zum Opfer gefallen.

Auch die Kontinuität der Handlung ist immer wieder unterbrochen, so dass manchmal ein einzelner Satz auftaucht, scheinbar verloren, aber oft der einzige Halt eines Jahrzehnts ist.

Die Geschichte ist an der Oberfläche einfach, aber gerade durch die Ausblendungen natürlich äußerst komplex.

Madame hat im Paris der 1930er Jahre keine materiellen Sorgen und kann sich voll der Kunst widmen. Ihr Mann ist Zigarre rauchender Faschist und will nur eines von ihr, Nachwuchs. Madame aber zieht die Kunst vor und verweigert diesen Nachwuchs, einmal reicht es gerade zu einer "jämmerlichen Missgeburt", wie das im Jargon des Mannes heißt.

Durch den drohenden Einmarsch der Nazis fliehen immer öfter jüdische Kunstsammler aus Paris, Madame sammelt alles, was diese überhastet zurücklassen müssen. Der Mann stellt mittlerweile ein Ultimatum, sie muss sich aus der Kunst zurückziehen. Als die Nazis versuchen, ihrerseits Kunst außer Landes zu bringen, wird Madame denunziert und kommt in ein KZ. Zu dieser Zeit verdichtet sich ein ganzes Kapitel zur eintätowierten Nummer. Ein amerikanischer Soldat, offensichtlich aus einer hinterwäldlerischen Gegend ist das erste, was Madame nach ihrer Befreiung wahr nimmt.

Aber sie findet nicht mehr Tritt in dieser Welt, sucht immer öfter Grandhotels auf und wird schließlich zu Madame Ritz. Ein bisschen Museumsbesuche, leichte Spaziergänge, Erinnerung an den Maler Rothko, Tee in kleinen Schlucken, in einem kleinen Zimmer des Ritz geht das Jahrhundert zu Ende. Und Tag und Nacht ist leise das Radio an, als Gesprächspartner und Begleiter durch den Äther der Außenwelt. Nach hundert Jahren sterben das Jahrhundert und Madame.

Aber Madame misst dieser Art von Leistung natürlich keinerlei Bedeutung bei. (99)

Didier Goupil erzählt auf eine eindringliche Art, indem er fast alles auslässt, was üblicherweise erzählt würde. Schon während der Darstellung wird die Geschichte zu einem Mythos, Heldin und Jahrhundert reduzieren sich auf Inschriften-artige Sätze.

Von der Prägnanz her lässt sich dieser Roman vielleicht am ehesten mit dem Cornet des Rilke vergleichen, wo ja auch eine gigantische Geschichte zu funkelnden kurzen Sätzen zusammengeschliffen ist.

Didier Goupil, Endstation Ritz. Roman. A. d. Französ. von Ines Schütz. [Orig.: Femme du monde, Paris 2001].
Innsbruck: Haymon 2008. 99 Seiten. 14,90. EUR. ISBN 978-3-85218-550-7.

 

Weiterführende Links:
Haymon-Verlag: Didier Goupil, Endstation Ritz

 

Helmuth Schönauer, 05-03-2008

Bibliographie

AutorIn

Didier Goupil

Buchtitel

Endstation Ritz

Originaltitel

Femme du monde

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Haymon

Übersetzung

Ines Schütz

Seitenzahl

99

Preis in EUR

14,90

ISBN

978-3-85218-550-7

Kurzbiographie AutorIn

Didier Goupil, geb. 1963 in Paris, lebt in Toulouse.<br />Ines Schütz, geb. 1974 in Linz, lebt in Salzburg.