Juri Andruchowytsch, Geheimnis

Buch-CoverWas für ein Titel! - Geheimnis. Sofort fragt man sich, wer hat ein Geheimnis, worin besteht es und wo liegt es?

Wie immer bei Juri Andruchowytsch liegt das Geheimnis vor der Nase. Als einmal Autor und Interviewer an der Neuen Synagoge vorbei gehen, erkundigt sich der Fragensteller nach dem Titel des Neuen Romans. Der Autor antwortet: "Geheimnis. Lass uns über etwas anderes reden!" (339)

Die Struktur dieses autobiographischen, zeitgeschichtlichen Künstlerromans ist elegant einfach und voll tragfähig. Der Ich-Erzähler wird von einem gewissen Egon Alt, offensichtlich einem Alter Ego, bekniet, doch eine Woche lang ein Dauerinterview zu geben. Nach einigem Zögern sagt der Autor zu, nach dem Gespräch bekommt er die Bänder zugeschickt und erfährt so nebenbei, dass der Interviewer auf einer Autobahn in der Oberpfalz tödlich verunglückt ist.

Wir lesen also die sieben Tage mit Egon Alt, wobei die Tagesthemen um Stoffe kreisen wie: Kindheit und Verwandtenbesuche in Prag, was damals als der äußerste Westen gilt, Studium, Militärdienst, Moskau, Literatur-Kult, Tod und Berlin.

In den jeweiligen Tagsitzungen läuft das Gespräch ziemlich assoziativ ab, der rote Faden freilich sind Stellen aus dem Literaturwerk des Autors, da werden immer wieder ganze Passagen exegetisch zerlegt und in einen Kontext der Gegenwart gespannt.

Manche Sequenzen sind völlig abenteuerlich, etwa wenn von der Hierarchie im Militär berichtet wird, wo es einzig und allein drauf ankommt, schon möglichst lange dabei zu sein, das schafft Macht, obwohl sich auch die alte Haudegen immer wieder erschießen. Interessant ist vor allem das Nationalitäten-Gemisch, in jeder Kompanie der Sowjet-Armee geht es zu wie in der UdSSR, nur mit Gewalt können die einzelnen Gruppierungen zusammen gehalten werden.

Von den Textstellen ausgehend erfährt man jede Menge Hintergrundaktion, wie tickt die Ukraine, wie ist sie selbständig geworden, wie schützt man sich bei langen Zugfahrten vor Übergriffen, wie kann man als Autor mit einer jungen Familie an der Oberfläche überleben, wenn die Texte im Untergrund erscheinen müssen?

Es war unmöglich, den Ort zu wählen, an dem ich mich mein Leben lang hätte verstecken können. Wie es überhaupt ganz unmöglich war, irgendetwas zu wählen. (124)

Eine raffinierte Art, die Systeme in Ost und West, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu vergleichen, besteht in einer unendlich langen U-Bahn-Fahrt durch Berlin. Die Systeme sind zwar vereint, aber an den ehemaligen Grenzen steigen verlässlich Kontrolleure zu, um alles zu kontrollieren wie früher.

Juri Andruchowytsch schickt sich in diesem Roman selbst durch die jüngere Zeitgeschichte, was das Individuum erlebt, kann vielleicht etwas über die Geschichte sagen, aber vielleicht ist alles nur ein Fake, oder zumindest ein Geheimnis.

Juri Andruchowytsch, Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt. A. d. Ukrain. von Sabine Stöhr. [Orig.: Tajemnycja, Zamist' romanu; Charkiw 2007].
Frankfurt/M: Suhrkamp 2008. 387 Seiten. EUR 24,80. ISBN 978-3-518-42011-9.

 

Weiterführende Links:
Wikipedia: Juri Andruchowytsch
Suhrkamp-Verlag: Juri Andruchowytsch, Geheimnis

 

Helmuth Schönauer, 29-07-2009

Bibliographie

AutorIn

Juri Andruchowytsch

Buchtitel

Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt

Originaltitel

Tajemnycja

Erscheinungsort

Frankfurt

Erscheinungsjahr

2008

Verlag

Suhrkamp

Übersetzung

Sabine Stöhr

Seitenzahl

387

Preis in EUR

24,80

ISBN

978-3-518-42011-9

Kurzbiographie AutorIn

Juri Andruchowytsch, geb. 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, lebt in Iwano-Frankiwsk.