Elisabeth Reichart, Die Voest-Kinder

Die Kindheit bildet oft einen eigenen Staat im Staat, die Beschreibung einer verstaatlichten Kindheit führt also automatisch zu einer Beschreibung des Staates.

Im Falle von Elisabeth Reicharts Roman über die Voest-Kinder wird dieser Verstaatlichungseffekt noch vom Thema her unterstützt, handelt es sich doch bei den Vereinigten Edelstahlwerken um ein besonders handfestes Stück Österreich der Nachkriegszeit.

Erzählt wird die Entwickungsgeschichte eines Mädchens in der österreichischen Nachkriegskulisse des großen Aufschwungs. Einerseits werden ununterbrochen Häuser gebaut, Siedlungen in die Landschaft gefräst und Stahl gekocht, was die Atmosphäre hergibt, andererseits tun sich für das Mädchen seltsame Keller auf, das Himmelreich erscheint zumindest in den Worten des Pfarrers sehr plastisch, und aus der näheren Zeitgeschichte tauchen die zwei wichtigsten Wörter auf: Nazi und Zigeuner.

Das Mädchen erlebt eine märchenhafte Kindheit, indem sich alles erträumen lässt, was es in der kargen Welt nicht gibt. „Das Vorrecht der Kindheit ist die Gegenwart“, sagt Großmutter einmal. (141)

Die Schule erweist sich als eigenständiges Reich wie auch die Voest-Siedlung etwas Besonderes ist, das mit der sogenannten Realität nichts zu tun hat. Natürlich gibt es bald einmal eine Keller-Erotik, in dem sich die Kinder eigenständig aufklären mit teils abstrusen Vorstellungen von der Welt.

Aber nicht nur hinter den sexuellen Wörtern steckt eine andere Wirklichkeit, auch im politischen Sinn ist nicht alles so, wie es klingt. Der Vater, ein eingefleischter Voestler, ist auf einer Baustelle am Blauen Nil, die Mutter, die ihn besucht, bringt ein sogenanntes Negerkind mit, das auf einer afrikanischen Baustelle durch einen Voest-Unfall Waise geworden ist. Auch sonst schimmert manchmal durch, dass die Voest eine Nazi-Vergangenheit hat, aber im aufkeimenden Konsumrausch werden diese historischen Erinnerungsschübe als nicht kommod empfunden.

Das Mädchen entwickelt als Gegenmodell zur allgemeinen Verdrängung eine intensive Freundschaft mit dem „Zigeunerbuben“ Milo. Hier wird in politischer Korrektheit der humane Sozialismus bis zum Kitsch hinein zelebriert.

Elisabeth Reicharts Roman ist der pragmatischen Fiktion unterworfen. Vergangene Parteiprogramme und historische Jubiläumsschriften werden im Sinne einer unterhaltsamen Kampfschrift zu einem Stück Bildungsroman zusammengeleimt, der seltsam patiniert und funktionärshaft wirkt. So ein Buch stellt man staatstragend zuerst in die öffentliche Bücherei und später ins Altersheim.

Die Generation der Fünfzigjährigen kriegt bei diesen Voest-Kindern wohl nasse Augen, die gegenwärtigen Kids dafür am Display den schnellen Daumen. – Historisch korrekt und österreichisch brav.

Elisabeth Reichart, Die Voest-Kinder. Roman.
Salzburg: Otto Müller 2011. 301 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-7013-1187-3.



Weiterführende Links:
Otto-Müller-Verlag: Elisabeth Reichart, Die Voest-Kinder
Wikipedia: Elisabeth Reichart

 

Helmuth Schönauer 17/07/12

Bibliographie

AutorIn

Elisabeth Reichart

Buchtitel

Die Voest-Kinder

Erscheinungsort

Salzburg

Erscheinungsjahr

2011

Verlag

Otto-Müller-Verlag

Seitenzahl

301

Preis in EUR

22,-

ISBN

978-3-7013-1187-3

Kurzbiographie AutorIn

Elisabeth Reichart, geb.1953 in Steyregg, lebt in Wien.