Die Tiroler Lesekompetenz: Leseschwachen Kindern kann geholfen werden. Teil 1

Seit Weihnachten 2004 gibt es in Tirol die Einrichtung "Tiroler Lesekompetenz" mit dem Ziel, Hilfestellungen für Schülerinnen und Schüler im Bereich "Lesen" anzubieten.

Seit Frühjahr dieses Jahres ist die Durchführung des Salzburger-Lese-Screenings (SLS), was ursprünglich als freiwilliges Angebot geplant war, verpflichtend für alle österreichischen Volksschulen vorgesehen worden. Das Angebot der "Tiroler Lesekompetenz" geht aber über die Durchführung des SLS weit hinaus und beinhaltet derzeit auch die direkte Arbeit mit den Kindern, die Beratung von Lehrerinnen und Lehrern sowie die Einbeziehung der Eltern in den Leselernprozess.

Ins Leben gerufen wurde die "Tiroler Lesekompetenz" durch Landesrat Sebastian Mitterer, der drei Dienstposten für den Pflichtschulbereich genehmigt hatte. Geleitet wird die neue Einrichtung von den drei Diplom Pädagoginnen Christiane Wanner, Mag. Margit Zimmermann und Karin Summerauer.

 

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Lesen in Tirol hat die Lehrerinnen der "Tiroler Lesekompetenz" am 10. Mai 2005 in der Lernwerkstatt in der Reichenau in Innsbruck besucht und mit ihnen über ihre Aufgaben, ihre Arbeit und ihre bisherigen Erfahrungen gesprochen:

Lesen in Tirol: Was sind die Aufgaben der Tiroler Leselehrerinnen und welche Erfahrungen konnten Sie bisher machen?

Christiane Wanner: Nachdem es keine vergleichbare Einrichtung, wie die unsere gibt, wurden uns die Aufgaben von niemandem vorgegeben, sondern mussten von uns selbst definiert werden. Wenn wir unsere Arbeit ganz grob mit einem Satz umschreiben wollten, würde er lauten: Wir unterstützen LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern beim Lesenlernen.

Margit Zimmermann: Es hat sich gezeigt, dass wir innerhalb unseres Teams, mit drei unterschiedliche Ansätzen vorgehen. Für mich liegt der Schwerpunkt meiner Arbeit bei schwachen Kindern. Dazu bin ich meist an den Schulen tätig, die zum großen Teil das SLS (Salzburger-Lese-Screening) bereits durchgeführt haben. Im Mittelpunkt stehen die leseschwachen Kinder, die ich mir genauer anschaue und für die ich ein individuelles Förderprogramm zusammen stelle. Dem Gespräch mit den LehrerInnen und der Einbeziehung der Eltern kommt eine besonderer Bedeutung zu. Die Zusammenarbeit funktioniert nur zu dritt, wenn Lehrer, Schüler und Eltern an einem Strang ziehen.

Die Rückmeldungen der Lehrer und Eltern sind bislang sehr, sehr positiv, weil im Grunde alle auf eine solche Unterstützung gewartet haben. Es war ihnen zwar bereits klar, dass das Lesen bei einzelnen SchülerInnen nicht so funktioniert, wie es eigentlich sollte, nur wussten sie nicht, wie sie damit umgehen sollten. Das Lesen wurde im Allgemeinen als etwas betrachtet, das jeder Schüler mit der Zeit schon irgendwie erlernt. Das gezielte Fördern beim Lesen lernen steht eigentlich erst jetzt im Mittelpunkt.


v.l.n.r.: Christiane Wanner, Mag. Margit Zimmermann und Karin Summerauer stellen die zahlreichen Arbeitsmaterialien für die Leseförderung selbst her. Foto: Markt-Huter

 

Karin Summerauer: Ich konnte bei meiner Arbeit folgende Erfahrung gewinnen: Wenn ich an die Schule komme, um meine Hilfestellung anzubieten, heißt es häufig von Seiten der Lehrerschaft: Es sind doch bereits Lesemappen an der Schule vorhanden und Lesen steht auch täglich als Hausaufgabe auf dem Programm. Wir wissen aber selbst nicht, warum es nicht funktioniert, obwohl wir doch so viel mit den Kindern lesen. Was von den LehrerInnen von unserer Arbeit daher ganz positiv aufgenommen wurde, war die genaue Diagnose. Wir konnten ihnen wirklich erklären, auch welcher bestimmten Stufe des Lesenlernens das Kind etwas nicht richtig vollzogen hat und wie auf dieser Stufe mit der Leseförderung angesetzt werden kann.

Häufig wird leseschwachen Kindern geraten, viele Bücher zu lesen, was aber nichts nützt, sondern die Leseschwäche dabei im Grunde noch mehr verfestigt. Auch ich war mir bei meiner Tätigkeit als Volksschullehrerin noch nicht bewusst, welch wichtige Rolle eine genaue Diagnose spielt. Und gerade um diese Erkenntnis ist man an den Schulen, die ich derzeit besuche, besonders froh. D.h. dass konkret bei den Schwierigkeiten der einzelnen SchülerInnen angesetzt und den LehrerInnen und SchülerInnen gezielt Material zur Verfügung gestellt wird.

Positiv aufgenommen werden auch die Hinweise die wir LehererInnen geben, vor allem aber, dass wir das Elternhaus bei der Leseförderung einbinden. LehrerInnen haben ein so großes Aufgabengebiet an den Schulen, dass sie mit einer wirklich ausreichenden Leseförderung überfordert wären. Wenn die Eltern hingegen mithelfen, kann bereits mit einem täglichen Übungsprogramm von ca. 5 Minuten sehr viel erreicht werden. Zu unseren Aufgaben gehört es ganz wesentlich, Impulse zu geben und allen beim Lernen und bei der Förderung zu helfen.

Christiane Wanner: Zu den Schwerpunkten meiner Tätigkeit gehört es zu zeigen, dass Lesen etwas anderes sein kann, als die Vorgehensweise so mancher Lehrer, die sich so beschreiben lässt: "Kinder jetzt lesen wir im Lesebuch auf Seite 48. Der erste beginnt und wenn er einen Fehler macht, kommt der nächste an die Reihe, bis die Stunde zu Ende ist." Es ist für mich ganz wichtig, den Lehrern zu vermitteln, dass diese Art des Lesens nicht besonders motivierend sein kann und dass Lesen etwas Interessantes sein muss.

Wenn ich mich mit den einzelnen Kindern näher unterhalte, befrage ich sie auch über ihr Leseverhalten, z.B. was sie lesen, ob sie in der Schule oder zu Hause gerne lesen. Es kommt immer wieder vor, dass Schüler erklären: "Die Bücher zu Hause lese ich gerne, aber in der Schule lese ich überhaupt nicht gerne." Bei längerem Nachfragen stellt sich dann heraus, dass das Lesen in der Schule als immer gleich und deshalb als langweilig erfahren wird.

Es ist daher sehr wichtig aufzuzeigen, was alles Lesen sein kann, welche verschiedenen Arten des Lesens es überhaupt gibt. Für die Kinder muss Lesen motivierend sein und darf nicht als Lückenbüßer herhalten, weil zufällig noch 10 Minuten bis zur Pause überbrückt werden müssen oder weil eine Hausaufgabe gestellt werden soll. Das passiert häufig dann, wenn der Leselernprozess bereits abgeschlossen sein sollte, also in der 3. und 4. Schulstufe. Mehr Aufmerksamkeit wird dem Lesen hingegen noch in 1. und 2. Klasse geschenkt

Karin Summerauer: Dazu möchte ich noch anmerken, dass gute Leser, also Leser die den Leselernprozess gut vollzogen haben, automatisch gerne lesen und das unabhängig davon, ob der Unterricht langweilig ist oder nicht. Dann lesen sie eben zu Hause mit Freude, und dies scheint mir besonders wichtig, dass das Kind daheim selbst zum Buch greift. Im Fall einer Leseschwäche nützt auch ein attraktiver Leseunterricht nichts: ein schwacher Leser wird immer scheitern und einen Frust erleben. Das leseschwache Kind entwickelt erst eine Freude am Lesen, wenn es seine Leseschwäche überwinden kann. Hier muss gezielt gearbeitet werden, was aber durchaus lustbetont sein kann.

Christiane Wanner: Es ist natürlich eine wechselseitige Beziehung. Wer nicht gut lesen kann, mag auch nicht gerne lesen und sich bemühen. Manche Lehrpersonen machen sich zu wenige Gedanken darüber, wie sie ihren Leseunterricht vorbereiten könnten: Was gibt es an Möglichkeiten oder wie lässt sich der Unterricht attraktiver gestalten? Der Leseunterricht muss aufgewertet werden. Dazu muss sich eine häufig erlebte Grundhaltung der LehrerInnen ändern, die häufig lautet: "Diese Kinder können jetzt lesen und sind gut und andere sind einfach schwach, das ist einfach so und da lässt sich nichts machen."


Christiane Wanner: "Wer nicht gut lesen kann, liest auch nicht gerne!" Foto: Markt-Huter

 

Lesen in Tirol: Durch die PISA-Studie geriet das "Lesen in der Schule" in den Mittelpunkt der medialen Berichterstattung. Ist dadurch an den Schulen ein neues Bewusstsein für das Lesen entstanden?

Margit Zimmermann: Ich möchte PISA nicht interpretieren, das würde zu weit führen. Ich denke aber, wenn etwas Positives durch die PISA-Studie entstanden ist, dann sicherlich, dass sich bei Lehrern, vor allem aber bei Eltern das Bewusstsein entwickelt hat, welche wichtige Aufgabe ihnen beim Lesenlernen zukommt.

Karin Summerauer: Bei LehrerInnen hat die PISA-Studie meines Erachtens mehr an Bewusstsein verändert als bei den Eltern. Gerade die LehrerInnen wurden durch die Studie sehr wachgerüttelt. Vor allem seit das Bildungsministerium über den Landesschulrat die Erhebung der Lesestandards einfordert, die nun an allen Schulen verpflichtend erhoben werden sollen, lässt sich in der Lehrerschaft helle Aufregung bemerken. Hier wurde in den Schulen durch die Studie sicherlich einiges bewegt.

Margit Zimmermann: Wobei die Erhebung der Lesestandards noch nicht alles sein kann. Das SLS durchzuführen ist ein erster Schritt. Aber jetzt muss der Weg in diese Richtung weitergegangen werden. Wenn man mit den Kindern redet, die vielleicht noch lächeln aber vor lauter Anstrengung schon schwitzen, bemerkt man, dass diese Kinder einfach Unterstützung und Hilfe benötigen. Es braucht einen gezielten Förderunterricht!

Christiane Wanner: Es sind einfach mehr Ressourcen nötig. Es gibt ein Schreiben zum Lesen von Frau Minister Gehrer, in dem steht, dass es an jeder Schule eine Leseexpertin oder einen Leseexperten geben solle. Für deren Ausbildung würde das Ministerium auch Ressourcen zur Verfügung stellen wollen. Wenn aber alle Leseprobleme auf die Leseexperten an den Schulen abgewälzt werden, scheint das Ganze eher problematisch zu sein.

Eine weitere Frage stellt sich: Wie kann ein Lehrer in seiner normalen Arbeitszeit zusätzlich noch für alle schwachen Schüler an seiner Schule Förderpläne und -programme erstellen und mit den Eltern reden? Es sollte daher nach Möglichkeit jede Lehrperson Leseexperte sein. An großen Schulen könnte es vielleicht wirklich sinnvoll sein, dass sich ein Lehrer ganz gezielt auf die Leseförderung konzentriert. Dafür müsste er aber auch ein gewisses Stundenkontingent zur Verfügung gestellt bekommen.


Gute Lernmaterialien für leseschwache Kinder sind noch selten und müssen großteils selbst hergestellt werden. Foto: Markt-Huter

 

Margit Zimmermann: Ebenso wichtig scheint mir, dass den Schülen auch die entsprechenden Fördermaterialien zur Verfügung gestellt werden, die gezielt auf die Defizite der einzelnen Kinder abgestimmt sind. Es gibt für alles Mögliche Lernmaterialien, nur für leseschwache Kinder oder für die einzelnen Bereiche in denen Leseschwächen möglich sind, gibt es nicht wirklich gutes Material.

Karin Summerauer: So zählt es zu unseren wichtigen Aufgaben, diese Lernmaterialien herzustellen. Wir sind z.B. gerade dabei eine Lesemappe zu erarbeiten, die im Internet zugänglich sein soll. Hier finden sich Übungen für jedes Lesedefizit beschrieben, die von den Lehrern selbständig durchgeführt werden können. In der Praxis sieht das so aus, dass wir eine Diagnose stellen, z.B. dass ein Schüler Probleme mit der Blickspannweite hat. Dann verweisen wir den Lehrer auf die richtigen Übungen, die er auf unserer Homepage finden kann. Ein solches Förderangebot gibt es im Augenblick noch nirgendwo in Österreich.

 

 

Andreas Markt-Huter, 10-05-2005

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