Karl-Markus Gauß, Zwanzig Lewa oder tot

Titelbild: Karl-Markus Gauß, Zwanzig Lewa oder totEin hoher Witz muss sein: Beim Gaußschen Gesetz wird der elektrische Fluss durch eine geschlossene Fläche vermessen, bei der Gaußschen Landkarte kommen Gegenden in peripherer Lage in den Fokus von Geschichte.

Karl Markus Gauß vermisst scheinbar unscheinbare Landstriche in einer Weise, wie es höchstens Humboldt zusammengebracht hat, in Wirklichkeit aber widmet er sich jenem Europa, das flussabwärts liegt und deshalb auch im Bewusstseinsstrom des Kontinents ständig ausrinnt. In vier Reisen geht es nach Moldawien, Serbien, Kroatien und Bulgarien, mit dabei ist immer ein einheimischer Vertrauter, der seltene Gespräche und Empathie mit raren Schicksalen vermittelt.

Moldawien ist ein Land, das nie von der Geschichte verschont geblieben ist, ständig verändern sich seine Form und seine politische Ausprägung, die Bewohner sind mehr außerhalb des Landes, als dass sie darin Arbeit fänden, und die Grenzen sind offen, wo es niemand erwartet, und voller Schikanen, wenn man in die „befreundete EU“ will. Der Autor nennt seine Annäherung eine „moldawische Sehnsucht“, da sind unter anderem die Gagausen eingeschlossen, die sich nur mehr mit starker mündlicher Befragung ausfindig machen lassen. Bemerkenswert ist vielleicht die Wertschätzung der Roma, die es den Landsleuten mit Zuckerbäcker-Villen danken, das sind zementierte Märchenträume, die zum Repräsentieren dienen, nicht zum Wohnen. Über die Hauptstadt Gagausiens heißt es:

Comrat ist für jene Besucher eine Reise wert, die ein Gefühl für die Schönheit hässlicher Städte haben. (46)

Die Reise klingt aus in der politisch übriggebliebenen Gegend von Transnistrien, das alle Denkmäler mustergültig pflegt, wohl wissend, dass jederzeit ein anderer politischer Zustand auftreten kann.

Die Reise in die Vojvodina ist für den Autor ein Flash in die eigene Geschichte. Endlich besucht er jenes Dorf, in dem seine Mutter einst zur Erstkommunion gegangen ist. Er betritt die Kirche und es ist alles so, wie es die Mutter erzählt hat. In diese „historische Meditation“ ist die jüngere Geschichte Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten eingeflochten. Ständig wurde umgesiedelt und es bewahrheitet sich letztlich nur der Spruch, am Ende sind alle ärmer geworden, selbst die, die kurzfristig ein fremdes Haus erbeutet haben.

In Zagreb blitzt schließlich die Geschichte des kroatischen Goethe auf, wie Miroslav Krleza mittlerweile genannt wird. Es hat fast dreißig Jahre gebraucht, bis die geplanten Übersetzungen ins Deutsche Realität geworden sind, aber jetzt sind sie da: Die Fahnen! Ein wundersamer Roman über das Verzischen des Habsburgerreiches am Balkan zwischen 1918 und 1922.

In Bulgarien kommt es schließlich zu jenem makabren Ausruf, der dem Buch den Titel verpasst hat.

Zwanzig Lewa oder tot! (152)

Ein körperlich desolater Mann zeigt seinen kaputten Körper und bedroht die forschenden Gäste mit seinem Tod, wenn er sich nicht rasch Medikamente kaufen kann. In den Gesprächen spielt die Donau eine große Rolle, die Bulgaren sagen immer, sie gehen nach Europa, wenn sie flussaufwärts meinen. Die Europäer hingegen wissen zum Großteil nicht einmal, wo Bulgarien liegt. Dabei gibt es jede Menge Überlebens-Charme. ein Kellner ist aus Deutschland wieder heimgekehrt und fasst Europa zusammen:

Mein Deutsch ist schlecht, aber mein Opel ist gut! (170)

Karl-Markus Gauß schafft es auch dieses Mal, große Reiselust auszulösen, nicht um ihn zu überprüfen, will man weg, sondern um diese moldawische Sehnsucht zu stillen, die mit diesem Buch vollends aufbricht.

Karl-Markus Gauß, Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen
Wien: Zsolnay Verlag 2017, 208 Seiten, 22,70 €, ISBN 978-3-552-05823-1

 

Weiterführende Links:
Zsolnay Verlag: Karl-Markus Gauß, Zwanzig Lewa oder tot
Wikipedia: Karl-Markus Gauß

 

Helmuth Schönauer, 10-02-2017

Bibliographie

AutorIn

Karl-Markus Gauß

Buchtitel

Zwanzig Lewa oder tot. Vier Reisen

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Zsolnay Verlag

Seitenzahl

208

Preis in EUR

22,70

ISBN

978-3-552-05823-1

Kurzbiographie AutorIn

Karl-Markus Gauß, geb. 1954 in Salzburg, lebt in Salzburg.