Gerhard Henschel, Arbeiterroman

gerhard henschel, arbeiterromanWenn ein Held lange auf Sendung bleiben soll, muss er sich zwischendurch immer wieder häuten und neu erfinden. Martin Schlosser, der Held von Kindheits-, Abenteuer- Bildungs- oder Künstlerroman, wird im siebten Roman Arbeiter.

Gerhard Henschel zieht im „Abenteuerroman“ wieder alle Register, um eine Art zeitgenössische Alltagschronik der späten 1980er Jahre auf die Beine zu stellen. Martin Schlosser, der schon längere Zeit in einer Spedition arbeitet, zieht eines Tages die Reißleine und verändert sich.

Er wolle vielleicht richtig bei Rhenus eingestiegen. Als Vollzeitkraft. Mit seinem Studium werde es ja nichts mehr. […] Dann bleib ich eben Arbeiter. (90)

Das Handlungsgerüst ist aus Alltagsstücken zusammengeschraubt, mal Fallen Paletten um, weil der Kollege zu schnell mit dem Hubstapler fährt, dann geht es im Jugendzentrum rund, wo die Freundin arbeitet, das Aufregendste beim Übersiedeln ist wieder das Klavier, das einfach für einen jetzt Arbeiter-Helden zu groß ist.

In dieses Gerüst sind historische Fakts eingestreut, immer rennt eine Sendung und es wird etwas von der DDR oder von Gorbatschow berichtet, beim Gang in den Plattenladen werden Reinhard May und Freddy Quinn mit Epoche prägenden Verszeilen abgehört, in der „Fackel“ aus dem Jahre 1921 geht es um das Verhältnis von Trottel und Monarch, wobei das Publikum, zumindest als Trottel mitspielen muss.

Daneben versucht sich Martin Schlosser tapfer als Schriftsteller, indem er seine Erfahrung als Arbeiter ausspielt. Die Ausreden und Absagen kommen am laufenden Band, kein Verlag hat Interesse an Literatur, wie sie der Held aus dem Steinbruch der Zeit schlägt. Gefürchtet ist der Aufkleber der Post, „Aufnahme verweigert“, womit manche Manuskripte zurückkommen.

Die gängige Lektüre jener Zeit wird elegant eingestreut, Julian Barnes mit seinem Flauberts Papagei, Klaus Theweleit mit dem Buch der Könige, Walter Jens mit einem Schasroman aus dem Jahre 1955, der Mann, der nicht alt werden wollte.

In diesen Darstellungen bleibt jenes Kulturgut übrig, das von der Arbeiterschaft Tag für Tag gefiltert wird. Arbeiterroman heißt somit, dass arbeitende Leute neben der Arbeit etwas Kultur einfließen lassen, wenn sie sich etwa in einem Loriot-Film daran ergötzen, wie jemand achtundzwanzig Sorten von Grau in seinem Musterkoffer hat. Es gibt noch kein Handy, sodass Tragödien dadurch entstehen, dass man einen Treffpunkt versäumt oder einen Streit in Echtzeit, statt über eine App abwickelt.

Dann zieht die Freundin aus, Mutter stirbt, der Held denkt in beiden Fällen an passive Sterbehilfe und besucht einen Workshop am Bauernhof, wo man sich geile Sterbeträume erzählt und danach so lange massiert, bis die Geschlechtsorgane wieder schlaff sind. Mittlerweile arbeitet Martin Schlosser als Kellner in einer Bar, aber auch zu wenig, sodass alles prekär und zähflüssig bleibt.

Der nächste Roman wird wahrscheinlich Barroman heißen, aber das wissen bislang weder Martin Schlosser noch das Publikum. Trotzdem freuen sich beide auf eine Fortsetzung, der Held, weil sein Leben interessant ist, das Publikum, weil die Romane interessant sind. Weiter so im Stoff!

Gerhard Henschel, Arbeiterroman
Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag 2017, 527 Seiten, 25,70 €, ISBN 978-3-455-40575-0


Weiterführende Links:
Hoffmann und Campe Verlag: Gerhard Henschel, Arbeiterroman
Wikipedia: Gerhard Henschel

 

Helmuth Schönauer, 02-07-2017

Bibliographie

AutorIn

Gerhard Henschel

Buchtitel

Arbeiterroman

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2017

Verlag

Hoffmann und Campe Verlag

Seitenzahl

527

Preis in EUR

25,70

ISBN

978-3-455-40575-0

Kurzbiographie AutorIn

Gerhard Henschel, geb. 1962 in Hannover, lebt in der Nähe von Berlin.