Thomas Stangl, Fremde Verwandtschaften

thomas stangl, fremde verwandtschaftFür das Ausräumen einer Schatztruhe gibt es keine verlässlichen Richtlinien. Genauso wenig ist geregelt, wie man einen Roman voller Schätze ausräumen und im Kopf installieren soll.

Thomas Stangl stellt für „Fremde Verwandtschaften“ ein Roman-taugliches Gerüst auf, um seine Hundertschaften von Kleinessays zur Lage der Dinge und Verhältnisse in der Welt überschaubar zu installieren.

Mit einer Kafka-Überlegung, wonach in einer Metro Menschen fließen wie Wasser in einer Wasserleitung, startet ein Wiener Architekt seine Dienstreise nach Westafrika, wo er in der Stadt „Belleville“ ein Projekt für ein Studentenheim vorstellen soll. Dienstlicher Anknüpfungspunkt ist eine Belgierin, die ebenfalls immer auftaucht, wenn architektonisch etwas los ist. „Ich liebe dich, aber nicht in dieser Wirklichkeit“ (183) wird er die Begegnung zusammenfassen, halb an sich selbst gerichtet, halb an die Belgierin.

Das ist die große Erzähl-Raffinesse, dass Figuren zwischendurch in eine Ich-Position übergehen und dabei in einem inneren Monolog die Dinge von Kindheit an reflektieren. So sagt der Vater, als er den ersten Plan des Architekten-Sohnes sieht: „Das soll ein Haus sein?“ (94) Und im Kinderzimmer liegen noch die Playmobil-Konstellationen herum, mit denen sich der Held einst in das Berufsleben hineingespielt hat.

An der Oberfläche schlingert sich der Architekt durch die Kulturverwerfungen zwischen Europa und Afrika. Wenn ich wirklich bauen will, muss ich Afrika bauen, an der Wiege aller Kulturen und der Menschheit. Alle europäischen Zitate wirken verstörend, wenn sie auf afrikanischen Boden treffen.

So spielt sich die Jahrhundertauseinandersetzung zwischen der Seminarwelt im Hotel und dem Leben im Großstadtdschungel draußen ab. Die Stadt Belleville, mit der wohl so etwas wie das senegalesische Dakar gemeint ist, gilt als gefährlich, wenn man aber ins Gespräch kommt, tun sich diese sagenhaften Kolonialpfade auf. So müssen etwa Waren aus dem Kongo den Umweg über Europa nehmen, um ins Nachbarland zu gelangen.

Unter der Oberfläche der Kontinente spielt sich im Architekten die Auseinandersetzung zwischen Lebensplan, Liebe, Sinn und Tod ab. Die Geschichte mit der Belgierin ist stellenweise ein Zitat aus Max Frischs Homo Faber, allerdings kümmert sich der Architekt um ganz andere Gedankenentwürfe, als um Seitensprünge und Abtreibungen. Es geht um die Frage, ob man das Leben vorausschauend konstruieren kann, oder ob man die permanenten Devianzen eines Plans nicht als das eigentliche Leben nehmen sollte. Hier kriegen alle Wissenschaften ihren Auftritt, die sich mit der Verbesserung des Lebens beschäftigen, Archäologie, Architektur, Soziologie, Politologie und Literatur.

In einer x-ten Meta-Ebene geht es schließlich auch um den Sinn eines Romans und die Kunst des Erzählens. Ich beginne Linien zu ziehen, sagt der Architekt, als er Gedanken entwirft.

Die Balance zwischen seinem Leben und dem Nicht-Leben muss gewahrt sein. (177)

Als es dann ernst wird, heißt die Parole:

Nicht jemanden erfinden, der an meiner Stelle stirbt! (256)

Am Schluss sitzt der Held wieder auf dem reservierten Flugzeugsitz und es geht „heim“ nach Europa. Freilich ist wieder einmal alles anders geworden, Nachdenken schafft neue Welten. Fremde Verwandtschaften sind im Sinne einer Familienaufstellung vielleicht bloß ein Arrangement von Playmobil-Figuren im Kinderzimmer.

Thomas Stangl, Fremde Verwandtschaften. Roman
Graz: Droschl Verlag 2018, 271 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-99059-009-6


Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Thomas Stangl, Fremde Verwandtschaften
Wikipedia: Thomas Stangl

 

Helmuth Schönauer, 14-03-2018

Bibliographie

AutorIn

Thomas Stangl

Buchtitel

Fremde Verwandtschaften

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Droschl Verlag

Seitenzahl

271

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-99059-009-6

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Stangl, geb. 1966 in Wien, lebt in Wien.