Josef Oberhollenzer, Sültzrather

josef oberhollenzer, süratherNichts macht die Menschen so hellhörig und aufmerksam wie ein Gerücht über einen Menschen, den es vielleicht gar nicht gegeben hat.

Josef Oberhollenzer stellt mit Sültzrather den idealen Aufmerksamkeitshelden vor. Sültzrather ist Zimmermann in Aibeln in Südtirol, er stürzt vom Baugerüst und ist querschnittgelähmt. Im Rollstuhl entdeckt er das Schreiben und schreibt sich ein Leben voller Dynamik unter die Schuhe. Später misstraut er seinen eigenen Phantasien und vernichtet alles. Was bleibt, ist ein Gerücht und ein hervorragender Roman.

Bereits das Personenverzeichnis, worin die Helden, Hund und Katz, und selbst ein Kind, das bei der Geburt stirbt, aufgezählt sind, lässt auf große Recherchekunst schließen. Und dann kommen schon die Fußnoten, die ganze Lebensgeschichten, Unglücke und Talschafts-Chroniken zum Vorschein bringen. Und schließlich gibt es für jedes der fünfzehn Kapitel Zitate aus der abgehobenen Literatur von Jean Paul bis Paul Celan.

Vitus Sültzrather changiert vom Selbstporträt über die Nachdichtung des Anton Reiser über einen verlorenen Verwandten des Arche-Bauers Noah bis hin zu Alptraumdohlen, die eine unerfüllte Liebe besingen. Die verschiedenen Textsorten zeigen eine skurrile Persönlichkeit, die teils aus alten Lesebüchern zusammengeklebt, teils beim Bau der großen Heldensagen vergessen worden ist.

So dokumentieren etwa Ausschnitte aus dem Seniorenheim, wie echter Stillstand und vollkommene Ruhe ausschauen können.

Der Altenheiminsasse R. sitzt auch am 20. Oktober 2012, so einem Altweibersommertag, von dem es heißt: wie er im Buche steht und an dem nichts geschehen wird, […] auf einer Verschönerungsvereins-Bank gleich rechts. (61)

Das einzig Aufregende ist die Orthographie, die Wörter sind kleingeschrieben und so unkonventionell zusammengesetzt, dass man selbst als abgebrühter Leser den Finger nehmen muss, um das alles zu dechiffrieren. Aber dann bleiben unvergessliche Sätze:

Er habe nicht auf die Vergangenheit treten wollen, wenn er in die Zukunft hinein sei. (140)

Und an manchen Tagen holt der Held aus den brutalen Gedichten des Ersten Weltkriegs eine völlig neue Facette hervor, wenn er etwa dem Schützengraben von August Stramm die Berufsgruppen zuordnet, wenn ein Buchhalter einem Bibliothekar die Fresse wegschießt, ein Schaffner dem Lehrer, und alle, die einen Beruf haben, darauf aus sind, dem anderen die Fresse wegzuschießen. (91)

Der Roman löst sich noch zu Roman-Zeiten auf, ein Kapitel über den Festungsbau zeigt, dass man auch in der Literaturgeschichte meist in einem aussichtslosen Stellungskrieg gefangen ist. Diesen kann man nur überwinden, wenn man „schriftlich schweigt“ (168) und die Geschichte und die Texte zu einem Gerücht macht. Sültzrather? - Nie gehört.

Josef Oberhollenzer bleibt bis in die Spitzen der Fußnoten hinein ernst, wenn er seinen Helden inthronisiert, alle Zitate stimmen und sind bestens recherchiert. Freilich, mit dem ewigen Googeln kommt man bei diesem Roman nicht weiter. Den muss man lesen, bis man alles glaubt, was da mit Akribie zusammengetragen worden ist. Ein selten gewordenes Vergnügen: Eintauchen in die pure Literatur.

Josef Oberhollenzer, Sültzrather. Roman
Wien, Bozen: Folio Verlag 2010, 180 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-85256-741-9

 

Weiterführende Links:
Folio Verlag: Josef Oberhollenzer, Sültzrather
Wikipedia: Josef Oberhollenzer

 

Helmuth Schönauer, 27-03-2018

Bibliographie

AutorIn

Josef Oberhollenzer

Buchtitel

Sültzrather

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Folio Verlag

Seitenzahl

180

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-85256-741-9

Kurzbiographie AutorIn

Josef Oberhollenzer, geb. 1955 im Ahrntal, lebt in Bruneck.