Markus Ramseier, In einer unmöblierten Nacht

markus ramseier, in einer unmöblierten nachtEin Land ist immer so interessant wie es einen passenden Erzählmythos für sich selber hat. Das Beste an der Schweiz ist, was das Erzählerische betrifft, Heidi. Da wird nämlich das Mädchen unter dem sonnenbraunen Augenglanz des Großvaters durch ausgewählte Natur geführt, und auch soziale Komponenten bis hin zum sexuellen Übergriff werden nach dieser Lesart als etwas Natürliches gesehen.

Markus Ramseier ist sorgfältiger Heimatforscher im besten Sinne des Wortes. Als solcher ist er durchaus arglistig unterwegs, wenn er den Heidi-Mythos für seinen Zustandsroman über die Schweiz verwendet. Seine Heidi ist die ukrainische Übersetzerin Yana, sein Großvater ist Viktor, der einen impotenten Endspross einer emsigen Familie gibt. Beide lernen sich im Moskauer Puschkin-Museum kennen, wo Victor als Kunsthändler gerade einen großen Coup gelandet hat.

In der Hochfinanz und im Mäzenatentum wird nicht lange gefackelt, sondern geheiratet. Beide brauchen diese Hochzeit, Viktor, weil er endlich sein Geld in einer Frau anlegen will, Yana, weil sie nach der Scheidung von einem Alkoholiker einen Nüchternen will.

Mit den Augen von Yana lernen wir eine reiche Schweiz kennen, die mit Vollgas in die Dekadenz stürmt. Der Alte hat einen Teil des Anwesens im Tal verkauft, um das Studium des Sohnes zu finanzieren. Statt der Natur glänzen jetzt Chalets im herrlichen Sonnenlicht. Und auch die Bewohner des Städtchens glänzen voller Floskeln und heimtückischer Bräuche und reichen Yana anerkennend von einer Phrase zur nächsten weiter. Yana atmet zwar in vollen Zügen das Tal in sich ein (14), hat aber keine Ahnung, was die einzelnen Abende bedeuten sollen. Eben noch war eine Beerdigung, jetzt geht es schon wieder zu einer Flugshow. (61)

Die Idylle hat ein Ende, als Yana zurück zur Großmutter ins ukrainische Schabo bei Odessa fliegt. Die Stadt ist einst als Schweizer Aussiedlerprojekt gegründet worden, jetzt reden alle nur noch in rätselhaften Anspielungen. Im Vergleich zur Schweiz ist die Ukraine ein vergammelter Supermarkt.

Wieder zu Hause in der Schweiz kommt ihr alles abweisend fremd vor. Sie gibt Cello-Unterricht, ohne die Kids zu erreichen. Victor ist mit seiner Kunst wörtlich am Ende. Und jedes Kompliment hat einen doppelten Boden: Du hast mich verändert! (170)

Für Schweizer Verhältnisse kommt es zu schier mathematischen Lösungen. Yana nimmt sich einen anderen, weil sie endlich ein Kind will. Victor bricht samt seinem Schweizer Lebensmodell zusammen und setzt sich verloren auf sein altes Schaukelpferd.

„Du bist unfruchtbar, Viktor, vor allem im Kopf!“ (277)

Markus Ramseier erzählt wunderbar anti-globalisierend. Satz für Satz rettet er Begriffe, die sprachlich unfruchtbar sind und in einem eigenen Glossar erklärt werden müssen. Man kann Heidi nur retten, wenn man sie für jede Generation neu erzählt.

Markus Ramseier, In einer unmöblierten Nacht. Roman
Innsbruck: Haymon Verlag 2018, 288 Seiten, 22,90 €, ISBN 978-3-7099-3420-3

 

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Markus Ramseier, In einer unmöblierten Nacht
Wikipedia: Markus Ramseier

 

Helmuth Schönauer, 30-05-2018

Bibliographie

AutorIn

Markus Ramseier

Buchtitel

In einer unmöblierten Nacht

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Haymon Verlag

Seitenzahl

288

Preis in EUR

22,90

ISBN

978-3-7099-3420-3

Kurzbiographie AutorIn

Ramseier, geb. 1955 in Liestal, lebt in Pratteln.