Daniela Emminger, Kafka mit Flügeln

daniela emminger, kafka mit flügelnIn der Literatur tauchen manchmal Länder auf wie bei einem Quiz. Dabei wird der Leser gefragt, was er schon weiß, ehe ihm der Roman dann eine neue Nuance des Länderwissens verschafft. Von Kirgisien kennt man in der Lese-Szene vielleicht Tschingis Aitmatow, und die User der Standard-Presse wissen am ehesten, dass dorthin die in Deutschland geklauten Autos verschoben werden, dass eine verdeckte Diktatur herrscht und unter den international tätigen Terroristen immer auch Kirgisen dabei sind.

Daniela Emmingers „Kafka mit Flügeln“ ist auf der ersten Ebene ein vollendeter Kirgisien-Roman mit Stoff, heldenhaften Figuren und elementaren Fragestellungen zu Kultur, Psyche und Wissenschaft. Auf der zweiten Ebene handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen fiktionalem Experiment und experimenteller Fiktion. Und drittens ist erzähltechnisch gesehen der Roman so etwas wie die Schilderung einer heroischen Metamorphose vom Ei über Raupe und Puppe hin zum Schmetterling.

Das Ei der Geschichte lässt sich noch ganz konventionell kommentieren. Als neunjähriges Mädchen lernt Sybille Specht in einem österreichischen Wald einen Jungen kennen, der als Halbkirgise einen Außenseiter-Status mit sich herumträgt und sich für Schmetterlinge Interessiert. Ein Vierteljahrhundert später ist Sybille Tier-Verhaltensforscherin, ihr Mann ist gerade bei einem Unfall ums Leben gekommen und die Mutter hat ihr am Sterbebett plötzlich Briefe des damaligen Kirgisen-Buben übergeben, die sie aus Angst vor einer Liebschaft zurückgehalten hat. Sybille steigt in eine Gefriertruhe, „um der Lebensmüdigkeit ein Ende zu setzen“ (286) , aber in der Truhe stinkt es so erbärmlich, dass sie weiterlebt und sich nach Kirgisien aufmacht.

Aus diesem konventionellen Ei entwickeln sich verschiedene Geschichten.

Das hier konnte alles werden. Von einem Kirgisischen Western bis hin zu einer Star-Wars-Episode de luxe. (172)

In Kirgisien ist der Junge Samat längst erwachsen geworden und verschollen. Er legt verschiedene Spuren aus, die darauf hindeuten, dass er als Schmetterlingsforscher an einem Metamorphose-Experiment für Menschen arbeitet.

„Für Metamorphosen gab es ganz allgemein zwei Möglichkeiten: Entweder man wartete, bis die innere Unzufriedenheit, das eigene Unglück derart laut wurden, dass sie sich nicht länger ignorieren ließen und eine Implosion unmittelbar bevorstand. Oder man nahm die Sache proaktiv in die Hand und arbeitete sich von außen nach innen vor.“ (42)

Überlagert von Geheimdienstanlagen, einer Analyse des Staatsgefüges und dem Wesen Kirgisiens, treibt Samat seine Forschungen voran. Seine Freundin aus dem österreichischen Wald sucht ihn über alle möglichen Kanäle, unter anderem über das Schlüsselwort des Romans „psukh“, das mindestens neun Bedeutungen hat, darunter Atem, Leben, Seele, Geist, Gemüt und Schmetterling. (177)

Getragen von Schamanismus und einer nahezu unbeschädigten Natur wird versucht, die Vorgänge einer Schmetterlingsentwicklung auf den Menschen zu übertragen. Damit könnte man die schlechten Stadien der Entwicklung ausschalten und sich quasi von vorneherein der Schönheit eines Schmetterlings als Lebensziel widmen.

Während dieses Forscherdaseins freilich vereinsamt der Held und gleicht immer mehr einem verhunzten Kafka als einem Schmetterling. Er kommt offensichtlich über die Stufe des Gregor Samsa nicht hinaus, wo dieser als Käfer auf den Rücken gedreht der Welt hilflos ausgeliefert ist. In märchenhaften Sequenzen verwandelt sich Sybille gar in die einheimische Sezin und steht vor der Frage, ob man Metamorphosen rückgängig machen kann oder ob sie unwiderruflich sind. Mit der Klarheit einer geläuterten Heldin fasst sie den Roman gleich selbst zusammen.

Ein Abenteuer wurde zur Liebesgeschichte, eine wahre Begebenheit zur Utopie, eine Episode über Verlust und Trauer zum Märchen mit Happy End. Und so war es ja auch Zeit, nach Hause zu gehen. (491)

Daniela Emminger stellt ein sorgfältig geplantes Erzählgerüst zur Verfügung und lädt die Leserschaft ein, selbst am Metamorphosen-Experiment teilzunehmen. Sie unterbricht durchaus die Handlung und wartet, bis alle wieder aufgerückt sind, um den nächsten Schritt einer Verwandlung anzugehen. Große Zeremonienmeister wie Staat und Wissenschaft greifen immer wieder in die Experimente der Individuen ein. Letztlich gibt es kaum eine gesicherte und verifizierbare Sprache zwischen den Experimentbetreibern und ihren Objekten. Das Individuum kommt wie ein Schmetterling in höchste Gefahr, wenn es den Feuern Staatsgewalt und Wissenschaftsethos zu nahe kommt.

In den einzelnen Episoden wimmelt es nur so von Anspielungen, Querverweisen und Durchstichen auf einen Meta-Text. Und dann sind es noch diese kleinen warmherzigen Fügungen, die einen kurz stocken lassen. Da will jemand nicht sein Leben, sondern die Lebensmüdigkeit beenden. Einen besseren Grund für das Weiterleben gibt es gar nicht!

Daniela Emminger, Kafka mit Flügeln. Roman
Wien: Czernin Verlag 2018, 491 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-7076-0628-7

 

Weiterführende Links:
Czernin Verlag: Daniela Emminger, Kafka mit Flügeln
Wikipedia: Daniela Emminger

 

Helmuth Schönauer, 22-07-2018

Bibliographie

AutorIn

Daniela Emminger

Buchtitel

Kafka mit Flügeln

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Czernin Verlag

Seitenzahl

491

Preis in EUR

26,00

ISBN

978-3-7076-0628-7

Kurzbiographie AutorIn

Daniela Emminger, geb. 1975 in Vöcklabruck, lebt in Wien.