Friedrich Hahn, Sonja und die weißen Schatten

friedrich hahn, sonja und die weißen schattenSchade, dass es im echten Leben keinen schnellen Vorlauf gibt! - Erwachsenwerden besteht vielleicht darin, die richtige Geschwindigkeit für das eigene Lebensvideo zu finden.

Friedrich Hahn führt seine Protagonisten meist an diese dünne Sollbruchstelle heran, die reißen muss, will man etwas vom Wirklichen erfahren. Erzähltechnisch nimmt er es mit dem Trash des Alltags auf und baut dabei therapeutische Sätze ein, die sowohl den Helden als auch dem Leser an entscheidender Stelle weiterhelfen.

Sonja und die weißen Schatten besticht durch die accelerierende Kapiteleinteilung, das erste geht noch über den halben Roman voller Alltags-Trash dahin, das siebte ist eine knappe Seite über eine ungewisse Zukunft. Sonja ist Tennisspielerin, weil es die Mutter so gewollt hat. Eine Sportverletzung erlöst sie aus dem Rollenspiel und führt zu dem tollen Aufschlagsatz:

Dieser Kreuzbandriss ist das Beste, was Sonja in ihrem bisherigen Leben passiert ist. (5)

Diese Sportverletzung stellt das bisherige Leben in Frage, das vor allem ein Anbiedern an Konventionen und familiäre Tabus gewesen ist. So gibt sich der Pubertäts-Freund Jonas als Freundin aus, weil Sonja noch keinen echten Freund haben darf.

Über allem schwebt das Schicksal der Halbschwester Lena, die Tennis gespielt hat und mysteriös verstorben ist. Zumindest die Mutter beginnt eine neue Zeitrechnung und teilt die Welt in Vor- und Nach-Lena ein.
Sonja und ihre „Freundin“ Jonas sind sich einig, dass die Erinnerung maßlos überschätzt wird.

Nur was der Erinnerung entkam, ist gut aufgehoben. (30)

In der Folge versucht Sonja den weißen Schatten des Tennisspiels zu entkommen. Sie kommt in einer WG unter und muss sich mit neuen Bekannten, Berufsgruppen und Jahrgängen erst vertraut machen. Die Welt scheint doch anders zu funktionieren als das Tennisspiel. Vor allem ist nie klar, was wichtig und was unwichtig ist. Da wäre eben so ein schneller Vorlauf ideal, dann könnte man die Schwachstellen des Lebens einfach schnell weiterspulen.

Wer im Prekariat lebt, landet unweigerlich in einer Buchhandlung. Auch Sonja arbeitet Stundenweise in einer Buchhandlung und kommt dabei mit dem Literaturbetrieb in Berührung, wo alles auf Zufall aufgebaut ist. Ihre Antwort auf den Literaturbetrieb ist das Lesen im Lotto-Modus. Dabei schlägt man das Buch irgendwo auf, liest ein bisschen und schlägt es wieder zu. Da die Literatur heutzutage unterhaltungselastisch aufgebaut ist, kann man überall ein- und aussteigen, ohne sich etwas dabei merken zu müssen.

Wer das Leben verändert, muss dies durch ein Tattoo kundtun, Sonja entscheidet sich für ein Chamäleon und ist jetzt wirklich ein neuer Mensch. Und dann kommt das Leben in Gestalt eines alten Mannes auf sie zu und bietet ihr sein Atelier an. Für solche Aufschläge ist im Tennis keine Punktevergabe vorgesehen.

Die Gegenwart besteht nicht nur aus einem Wimpernschlag, sondern kann fallweise monumental und deutungsbrüchig ausfallen. Mutter ist gestorben, der kleine Bagger rückt an, um neben Lenas Grab ein Loch zu machen. Im Bauch rumort es, es könnte eine Schwangerschaft sein. Und im Hinterkopf taucht die Fügung auf, dass bei einer Frau die Gebärmutter als letztes verwest.

Friedrich Hahn holt verschmitzt das Letzte aus der Literatur heraus. Zwischendurch gehorcht er brav dem Literaturbetrieb und macht alles richtig. Doch dann funkelt es in seiner Schreiber-Seele und er schnappt sich eine Figur und haut mit ihr ab. - Wunderbar.

Friedrich Hahn, Sonja und die weißen Schatten. Roman
Graz: Edition Keiper 2018, 111 Seiten, 18,00 €, ISBN 978-3-903144-48-4

 

Weiterführende Links:
Edition Keiper: Friedrich Hahn, Sonja und die weißen Schatten
Wikipedia: Friedrich Hahn

 

Helmuth Schönauer, 17-06-2018

Bibliographie

AutorIn

Friedrich Hahn

Buchtitel

Sonja und die weißen Schatten

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Edition Keiper

Seitenzahl

111

Preis in EUR

18,00

ISBN

978-3-903144-48-4

Kurzbiographie AutorIn

Friedrich Hahn, geb. 1952 in Merkengersch / NÖ, lebt in Wien.