Alessandro Baricco, Die Barbaren

alessandro baricco, die barbarenZwölf Jahre sind im Literaturbetrieb schon fast eine Epoche, und wenn ein Kulturessay nach zwölf Jahren immer noch aktuell ist, so hat er wohl etwas Epochales an sich.

Alessandro Baricco veröffentlicht 2006 einen Fließ-Essay über die Mutation der Kultur. Der Ausdruck Fließ-Essay beschreibt die Art, wie der Autor mit dem Publikum kommuniziert, es handelt sich um eine Art Fortsetzungstext, der wöchentlich von Neuem beginnt und je nach Lage der Woche mehr oder weniger tagespolitische Ansätze aufweist. Der Leser wird dabei mündlich angesprochen und wie in einem Espresso-Gespräch behutsam durch das Thema geführt. Ein kluger Schachzug besteht dabei in der Einführung von Barbaren, sie sind diffus und allgemein gehalten und können eine Bedrohung von außen sein, aber auch eine augenzwinkernde Selbstdarstellung der Kultur-Insider.

Die Begleitung der Kultur ist immer die Mutation. Nur wenn sich ständig etwas verändert, kann auch die bewährte Kultur am Leben erhalten werden. Der wichtigste Weckruf für diese Überlegung ist das allseits bekannte Zitat: Früher war alles besser!

Am Beispiel der Kultur-Felder Wein, Fußball und Buch zeigt der Autor die Veränderungen der letzten Jahrzehnte, dabei sind die Barbaren die Betreiber der neuen Formen, die sich nur sporadisch mit der Vergangenheit beschäftigen, während sie nomadisierend über die Begriffsfelder ziehen.

Der heilige Wein aus Frankreich beispielsweise ist nach dem Weltkrieg von GIs nach Amerika verpflanzt worden, wo er zum Hollywood-Wein ausgebaut wurde. So ist es möglich, dass man heutzutage mit der Sprache einer Fastfoodkette über die Qualität des Weins sprechen kann, was der Weinkultur eine neue Richtung gibt.

Im Fußball ist heutzutage das individuelle Genie nicht mehr gefragt, es geht um ein kommerzielles Zusammentreffen von Millionären, die mit den Regeln von früher einen Sport betreiben, der eher nach Society-Regeln abläuft als nach Rasen-Regeln. Dazu kommt noch die perverse Kluft zwischen den verarmten Zuschauern, die oft das letzte Geld einsetzen, um wenigstens für ein paar Stunden aus dem eigenen Prekariat herauszukommen und im Stadion den internationalen Glanz von vergoldeten Kickern zu bewundern.

Bei den Büchern ist es ähnlich, der Kommerz hat die Lektüre erfasst, es wird mehr über die Begleitumstände der Literatur geredet als über die Texte selbst. Aber der Autor warnt vor Qualitätsdiskussionen nach dem Früher-Besser-Prinzip. Der Literaturbetrieb gleicht immer schon einem Spiegel-Ei, worin das Eigelb der Qualitätsliteratur auf das Eiweiß der Belletristik trifft. Heutzutage ist das Spiegel-Ei eben größer und dünner geworden. Und auch die edle Kraft von Romanen hat zwischendurch an Glanz verloren.

Früher gab es wenige Leser, aber der Roman eroberte jeden einzelnen von ihnen. (74)

Das Kapitel über die Google als neue Kulturmaschine ist zwar jenes, das am schnellsten veraltet ist, man soll aber würdigen, dass in diesem Essay Google bereits einer Kulturtechnik wie dem Wein oder den Büchern gleichgestellt ist. Das Elementare an Google ist ein Paradigmen-Wechsel, die Erfahrung von Menschen wird durch Suchverläufe abgelöst. Nicht mehr die Lebenserfahrung zählt bei der Bewältigung von Aufgaben, sondern die geschickte Verbindung von Suchanfragen.

So endet der Essay auch nicht mit Kulturpessimismus, sondern einem gewissen Verständnis gegenüber den Barbaren, die eben in der Historie noch nicht heimisch geworden sind.

Die bürgerliche Kultur lehrt den Abstieg in die Vergangenheit, während die Barbaren sich nur um die herumtreibenden Trümmer auf der Oberfläche kümmern. (179)

Sinnbild für diesen Kampf zwischen Kultur und Barbarei könnte der Propeller sein, dessen Blätter sich bei jeder Umdrehung der Vergangenheit und Zukunft, dem Hinten und Vorne gleichermaßen zuwenden.

Alessandreo Baricco, Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur, a. d. Ital. von Annette Kopetzki. [Orig.: I Barbari, Mailand 2006]
Hamburg: Hoffmann & Campe Verlag 2018, 221 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-455-40580-4

 

Weiterführende Links:
Hoffmann & Campe Verlag: Alessandreo Baricco, Die Barbaren
Wikipedia: Alessandreo Baricco

 

Helmuth Schönauer, 06-09-2018

Bibliographie

AutorIn

Alessandreo Baricco

Buchtitel

Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur

Originaltitel

I Barbari

Erscheinungsort

Hamburg

Erscheinungsjahr

2018

Verlag

Hoffmann & Campe Verlag

Übersetzung

Annette Kopetzki

Seitenzahl

221

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-455-40580-4

Kurzbiographie AutorIn

Alessandro Baricco, geb. 1958 in Turin, Mitherausgeber von La Repubblica, lebt in Rom.