Wolfgang Hermann, Walter oder die ganze Welt

wolfgang hermann, walter oder die ganze weltDie Welt schrumpft in kleinen Städten an der Peripherie zu einer Trommel, auf der sich trefflich ein Polizist aufstellen lässt, der den Weltverkehr regelt.

Wolfgang Hermanns subtile Heimatbeschreibung geht der Frage nach, welches Okular man einer Erzählung vorspannen muss, damit die Welt in einer harmonisch-humanen Verhältnismäßigkeit erscheint. „Walter oder die ganze Welt“ handelt von einem Polizisten in einer Vorarlberger Kleinstadt in den 1960er Jahren.

Walter ist ganz selbstverständlich nach der Grundschule Polizist geworden, weil er diesen Wunsch in der Kindheit beim Umgang mit den Spielsachen so formuliert hat. Jetzt sitzt er viel in der Polizeistation und sein Erlebnis-Horizont ist das Parterre. In einer friedlichen Zeit spazieren nämlich die Probleme an der ebenerdig gelegenen Wachstube vorbei und man muss ihnen nicht nachrennen. Für den Außendienst gibt es an der einzigen Großkreuzung ein Podest in Gestalt einer Trommel. Walter stellt sich immer wieder amtlich darauf, und während er mit ordnenden Gesten fuchtelt, hält er auf Augenhöhe mit den Passanten Kontakt.

Es geht um die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung der Stadt. (21)

Diese Kreuzung ist freilich an die große weite Welt angeschlossenen. Jeder, der von Norden nach Süden will, muss da durch, und der Verkehr schwillt von Jahr zu Jahr an. Überhaupt ist die Zeit dadurch gekennzeichnet, dass alles mehr wird. In den Web-Fabriken werden immer mehr türkische Arbeiter angestellt, die allmählich auch im Straßenbild zu sehen sind. Am Bahnhof nimmt das Trinken zu, sowohl die Lautstärke als auch das Flüssigkeitsvolumen prosperieren verlässlich. Und aus entlegenen Winkeln hört man immer öfter, dass dort Lichtgestalten im Dunstkreis von Haschisch einen transzendenten Blick entwickelt haben.

Tatsächlich sucht Walter eines Tages eine entlegene Bruchbude auf, um sich ein Bild vom Rand der Gesellschaft zu machen. Ihm wird ein Hasch-Keks angeboten, und als er das Willkommen-Nugget verzehrt hat, verändert sich die Welt. Nichts ist mehr so, wie er es gelernt hat, dass es wahr ist. Alles hat einen Möglichkeitssinn im Hintergrund. Wenn man auf die Dinge blickt, weichen sie aus, wenn man Menschen anspricht, verdrehen sie plötzlich die Augen und nehmen eine neue Position ein, manche sind überhaupt nur als Hülle anwesend. (49) Kurz: das Weltbild des Walter bricht von einem Augenblick auf den anderen zusammen.

Dabei hat sich aber auch die Stadt verändert, denn sie ist aus dem inneren Gleichgewicht gekommen, Gewerbeparks sorgen für eine Unwucht, die sogenannten Computerzentren kümmern sich um alles andere als um die anwesenden Menschen.

Die Vergangenheit ist von der Sehne geschnellt und saust als Pfeil unkontrolliert durch die Zeit. (94)

Walter steht höchst abgehoben auf seiner Erlebnis-Trommel, der Verkehr braust wie überall links und rechts an den Menschen vorbei.

Wolfgang Hermann kümmert sich erzähl-sorgfältig um seinen schlichten Helden Walter. Der Held macht alles richtig, aber die Welt ist einfach zu groß für ihn. Während seines ordnenden Eingreifens als Polizist verändert sich die Ordnung, so dass er amtlich und privat ins Leere greift. Das Keks der Erkenntnis bringt seine Jünger nicht viel weiter, jede Aufklärung erweist sich hinterher als Modeerscheinung, wenn nicht gar als Irrtum.

Die Erzählung berichtet von der Aussichtslosigkeit eines Berufslebens, man kann sich noch so bemühen, das Zeitgeschehen ist immer stärker und überrollt alle Teilnehmer, ob sie nun aktiv eingreifen oder stracks in die Trinkhalle am Bahnhof gehen. Der Sinn des Lebens in der Provinz besteht darin, den Lauf der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Auf raffiniert angepflanzten Metaebenen lässt sich ein Stück Zeitgeschichte herauslesen. Die Verarbeitung der Nazizeit, der Wandel in der Industrie, das verzögerte Heimisch-werden der Migranten, das Hindurchpressen des Verkehrs durch die überforderte Kleinstadt: alles kommt zur Sprache, ohne dass jemand dabei denunziert würde. Das Beruhigende an der Zeitgeschichte ist ja, dass sie schmerzfrei empfunden wird, wenn sie lange genug zurückliegt. So gesehen befindet sich Walter in einer Schmerztherapie mit seiner Gegenwart.

Wolfgang Hermann, Walter oder die ganze Welt. Erzählung
Innsbruck: Limbus Verlag 2020, 95 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-99039-167-9

 

Weiterführende Links
Limbus Verlag: Wolfgang Hermann, Walter oder die ganze Welt
Wikipedia: Wolfgang Hermann

 

Helmuth Schönauer, 16-05-2021

Bibliographie

AutorIn

Wolfgang Hermann

Buchtitel

Walter oder die ganze Welt

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2020

Verlag

Limbus Verlag

Seitenzahl

95

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-99039-167-9

Kurzbiographie AutorIn

Wolfgang Hermann, geb.1961 in Bregenz, lebt in Bregenz.