Ludwig Roman Fleischer, Hundert Jahre Seewinkel

ludwig roman fleischer, hundert jahre seewinkelWas für ein Herzstich! - Als Grundschulpädagoge sollst du den Erstklässlern die Liebe zur Heimat beibringen, aber das Land ist so jung, dass es nicht einmal eine Fahne hat.

Ludwig Roman Fleischer beackert den burgenländischen Seewinkel in achtzehn Erzähl-Furchen. Das patriotische Feld ergibt sich aus der Tatsache, dass 1921 das Burgenland als jüngstes Bundesland zur Republik Österreich gekommen ist. Die Erzählungen erstrecken sich über ein Jahrhundert und greifen Sequenzen auf, die erst im Dahinter-Blick jene Verstrickungen offenlegen, die beim Suchen einer neuen Identität auftauchen.

Auf der Vorderbühne spielt sich das Alltagsleben in süffisanten Szenen ab, die man in einer bunten Vorabendserie unterbringen könnte. Im Souffleurkasten freilich liegt ein leeres Drehbuch, sodass niemand den Helden einsagen kann, wenn es um die patriotische Wurst geht. Dementsprechend hilflos reagieren die Protagonisten, weil sie schon bei der Sprachwahl aufgeschmissen sind. Gerade in den Siedlungen des Seewinkels geht alles auf einen fließenden Sprachmischmasch hinaus, Dialekte, Schulsprachen, pädagogische Leitsätze in Deutsch, Ungarisch und Kroatisch purzeln aus den Helden, sobald sie sich geschüttelt fühlen durch ständiges Zuprosten.

In der ersten Geschichte steht der Volksschullehrer also vor seiner Klasse, das Land ist gerade neu ausgerufen worden und hat keinerlei pädagogische Infrastruktur. Weder Hymne noch Fahne stehen zur Verfügung, um das Unterrichtsjahr halbwegs feierlich zu starten. Da lässt er seine Kids Vorschläge zeichnen, wie die neue Landesfahne aussehen könnte. Die Schülerin Mizzi führt das Unterfangen gleich ad absurdum, indem sie für vier Fahnen plädiert, für jede Windrichtung eine, und außerdem sind alle Entwürfe mit den Regenbogenfarben unterlegt. Der Lehrer ist nicht zufrieden, und Mizzi beginnt zu weinen, weil sie ahnt, dass das neue Burgenland kein reiner Regenbogen werden wird.

In Ermangelung einer offiziellen Geschichte plädieren die Kids an anderer Stelle dafür, dass der Lehrer echte Geschichten erzählen soll, solche aus dem Leben im Seewinkel. Dieser lässt sich nicht lumpen und schwadroniert im Stil von Rittersagen vom Abenteuer, das Fürsten in dieser Gegend zu bewältigen hatten. Zumindest das Wetter war immer extrem, und nirgendwo lässt sich am Ende die erlösende Weihnachtsgeschichte so kalt zuspitzen wie in einem pannonischen Windkanal.

Während für den Unterricht die Geschichte allmählich eine gewisse Struktur erreicht, indem man „früher“ und „heute“ unterscheidet, geht es draußen im Freien oder im Schankbetrieb noch ziemlich gleichzeitig zu. Als jemand beklagt, dass er gerade seine Geburtsstadt Ödenburg verloren habe durch Volksabstimmung, fallen auch die anderen mit ihren Wahlergebnissen in den Dörfern über einander her. Alle sind sich einig, dass die Gegenwart ein unbeschriebenes Blatt ist, egal auf welchem Staatsgebiet es aufgeschlagen hat.

In der Folge liefert der Seewinkel wie überall im Dritten Reich brav seinen Beitrag ab. Drei besonders Kluge gehen auf die Eliteschule NAPOLA und finden sich bei Feldarbeiten in einem US-Camp wieder, andere, wie etwa im Falle der Siedlung Frauenkirchen, machen als Mitläufer mit, wenn jüdische Mitbewohner ausgeforscht und ins Ungewisse verbracht werden. Irgendwo kommt sogar Stolz auf, dass man bei der Heimkehr ins Reich in einigen Orten schneller als der offizielle Terminplan gewesen ist. Plötzlich wird in Stunden gemessen, wie schnell einer Nazi geworden ist. Auf der anderen Seite werden schon die ehemaligen Mitbewohner aussortiert und mit der Fügung verbracht, die später alles gutheißt: „Leider hätt’ man nix tun können, nicht helfen oder sowas.“ (50) Der Dialekt erweist sich bei solchen Floskeln oft als hilfreich, weil man hofft, man werde nicht verstanden.

Das Leitmotiv der Fahne weht verlässlich über dem Seewinkel. Dieser umgangssprachliche Begriff für einen durchgehenden Sud im Gemüt sickert durch alle Gespräche, und in einer Fachanalyse stellt sich gar heraus, dass die Fahne, vulgo der Wein, ein Selbstträger sein kann.

In der Geschichte von der Lese freilich werden wir mit einer Tagesarbeiterin bekannt gemacht, die sich den ganzen Tag lang im Weinbau in die Finger schneidet, damit die Weinschmecker später einen ordentlichen Abgang haben. Der Abgang der Arbeiterin besteht im Warten auf den Bus, der sie nach Wien zurückbringen wird.

Die sogenannte Ungarnkrise hingegen macht die Bewohner schlagartig nüchtern und hilfsbereit, sie wissen selbst, wie fragil Staatengebilde und Systeme aufgesetzt sind, und wie schnell man die Flucht antreten muss. Immerhin kennt jeder jemanden, der aus irgendeinem Grund das Land hat verlassen müssen.

Auslandsaufenthalte in geplantem Sinn führen früher oder später zur Entwicklung einer großen Persönlichkeit. Der Humanpräparator ist beispielsweise 1952 nach Tirol aufgebrochen, um das „Ausstopfen“ von Tieren zu lernen, wie man in der Trivialsprache sagt. Bei dieser Gelegenheit hat es ihm ein abgestürzter Bergsteiger angetan, an dem er seine Meisterschaft des Präparierens testen will. Und siehe, zuerst muss alles noch im Geheimen geschehen, aber dann gibt es kein Halten mehr, jeder will den ausgestopften Tiroler sehen.

Ein gutes Jahrhundert hört vorsichtshalber mit der Zahl 99 auf, damit es nicht als vollkommen empfunden wird. Das gilt auch für das Jahrhundert vom Seewinkel. Rechtzeitig zu etwaigen Jubiläumsfeiern bricht eine große Seuche aus, die das öffentliche Leben stilllegt. Und selbst die griechischen Sagen müssen umgedeutet werden. Im pandemischen Zeitalter verschmelzen die pannonischen Helden Hero und Leander, indem er mit dem Boot übern See „kommt“ und die Geliebte am Steg begattet. Aber ein Fluch liegt über der Liebe, die Einheimischen zeigen die beiden an wegen Überschreitung der Lockdown-Vorschriften.

Ludwig Roman Fleischer erzählt die hundert Jahre in einem einzigen Aufguss. Alle kommen vor, niemand wird vergessen. Und neben den verrückten Plots, die nur der Alltag schreiben kann, zählt vor allem die absurde Verknüpfung der Slangs und Sprachen. Diese haben sich nämlich alle von ihren Muttersprachen verabschiedet und sind als Kollektiv im Seewinkel endemisch geworden. Davon erzählt der Autor, ausgestattet mit einem Breitband-Ohr, das auf alle Signale reagiert.

Ludwig Roman Fleischer, Hundert Jahre Seewinkel. Erzählungen
Klagenfurt: Sisyphus Verlag 2021, 140 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-903125-58-2

 

Weiterführende Links:
Sisyphus Verlag: Ludwig Roman Fleischer, Hundert Jahre Seewinkel
Wikipedia: Ludwig Roman Fleischer

 

Helmuth Schönauer, 18-05-2021

Bibliographie

AutorIn

Ludwig Roman Fleischer

Buchtitel

Hundert Jahre Seewinkel

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Sisyphus Verlag

Seitenzahl

140

Preis in EUR

15,00

ISBN

978-3-903125-58-2

Kurzbiographie AutorIn

Ludwig Roman Fleischer, geb. 1952 in Wien, lebt in Wien und Feld am See.