Peter Paul Wiplinger, Aussichten

peter paul wiplinger, aussichtenDer eine kommt aus dem Nebel zurück und verkündet, er habe die Aussichtswarte verfehlt und daher nichts gesehen, der andere nimmt vor dem Bildschirm des Internisten Platz und kriegt eine Vorschau auf seine Krankengeschichte, irgendwo ganz hinten sitzt der Tod.

Peter Paul Wiplinger hat für seine Gedichte den „finalen Erzählstandpunkt“ eingenommen. Unter der vorgeblich wertneutralen Perspektive „Aussichten“ drehen die Winde ständig, was eben noch Schönwetter heißt, erfährt eine jähe Verdunkelung. Wo eben noch Gewissheit am Bildschirm aufleuchtet, wird bei genauerem Hinsehen eine amorphe Gestalt sichtbar, die erst wieder ungewisse Prognosen auslöst.

Aus heiterem Himmel kommt eine Einberufung, wie sie früher Rekruten bekommen haben, die nichts mit dem Krieg zu tun haben wollen. Das lyrische Ich wird vom eigenen Körper einbestellt, der Arzt hat diverse Lagepläne vor sich und bespricht sich mit dem Krankheits-Rekruten, der überhaupt keine Lust hat, in dieses Fahrwasser der Gedanken gestoßen zu werden.

Das lyrische Ich kann sich selbst nicht aus der eigenen Haut davonschleichen, es wird in eine Röhre gesteckt und vermessen, über Nacht gibt es neue Wertmaßstäbe, was früher gegolten hat, ist heute nicht mehr der Rede wert. Die Erinnerung an den Vater taucht auf, als dieser nicht studieren konnte, weil ihm der Krieg dazwischenkam und der Titel-lose das Leben mit bloßen Händen meistern musste. Später hat sein Sohn das Leben mit ähnlich bloßen Händen in Angriff genommen, und irgendwann ist ein Professor daraus geworden, der den Vater gefreut hätte, aber nichts gegen die Zeit hilft, die nun bevorsteht.

Die Gedichte sind zwar als einzelne Texte aufgefädelt, aber sie hängen alle auf der gleichen Abtropfleine wie Fotos, die sich partout nicht hinters Licht führen lassen wollen. Der Lyriker und Fotokünstler Peter Paul Wiplinger komponiert die Sammlung wie eine Fotostrecke, bei der kein Bild verloren ist. Selbst untereinander halten sich die Gedichte an den Händen, damit sie nicht zusammensinken, sollten sie ein Schwächeanfall streifen. Das lyrische Ich wird dabei gänzlich zu einem Gedicht.

In einem nächsten Gedankenkreis geht es darum, ob man mit Demenz die Todesangst verjagen könnte.

Demenz / dichterisch // während ich / die erste strophe / eines gedichtes denke // vergesse ich schon / dessen erste zeile / seinen beginn // so endet das gedicht / nicht zu ende gedacht / nicht zu ende gedichtet // daß letztlich / alles fragment bleibt / das weiß ich sowieso (46)

Um dem Vergessen eins auszuwischen sind die Gedichte immer mit Datum und Ort signiert, man weiß ja nie, wie genau man etwas wissen sollte.

Die Gedichte kommen ungefragt wie Gedanken, weil beide dem gleichen Kopf unterworfen sind. Schon beim Aufwachen kann es sein, dass noch etwas von der Nacht drin ist im Kopf, wir sagen Traum dazu, aber es ist der gleiche Gedankenstrom, der beim Zusammenfalten des Leintuchs herausgeschüttelt wird in den Tag. Manchmal ist eine Überraschung dabei, etwa das Wort „Hilfsgedanken“. Was ist das, eine Unterstützung, eine Subordination, eine Hilfswissenschaft? (69)

Wenn das Thema Tod heißt, hilft kein Aufbäumen, am besten, man macht ein Gedicht über den Todesgedanken. „ich ziehe meine / schwarzen socken an / und denke an den tod“ (93).

In der letzten Ernte wird noch einmal alles eingesammelt, was war, die Kinderlieder, das erste Wort, das erste Kindergebet, der erste Jubelschrei, die erste bunte Wiese, alles muss geerntet sein, ehe die Nacht losbricht. (103)

Bei den letzten Dinge ist keine Feierlichkeit am Platz, das Versmaß ist der kalte Zweizeiler, der Beschreibung und Entrückung zu einem Stück verschmelzen lässt. Im „suizidgeschehen“ werden ähnlich einer Gebrauchsanweisung die Vorbereitungen geschildert, die ein lyrischer Protagonist zu tätigen hat, ehe er von einem Sterbebegleiter das finale Medikament erhält. (117)

Die „Aussichten“ enden lapidar (steinern) mit Texten über eine Grabinschrift und die Kremierung. „Etwas wie Frieden“ ist die letzte Vorschau überschrieben.

Peter Paul Wiplinger schenkt sich nichts, der alte Kämpfer hat alles Unnötige abgeschüttelt, was die Aussicht verstellen könnte. Sein Blick ist klar und ein scharf wie ein Zweizeiler, er wird den letzten Kampf gewinnen, weil er das Widersinnige schon ausgeräumt hat. Die Aussicht ist gut, denn Peter Paul Wiplinger sitzt in der Aussicht selbst, wie im Auge des Taifuns.

Peter Paul Wiplinger, Aussichten. Gedichte 2020–2021
Wien: edition pen Löcker 2021, 133 Seiten, 19,80 €, ISBN 978-3-99098-085-9

 

Weiterführende Links:
Wikipedia: Peter Paul Wiplinger
Homepage: Peter Paul Wiplinger

 

Helmuth Schönauer, 27-08-2021

Bibliographie

AutorIn

Peter Paul Wiplinger

Buchtitel

Aussichten. Gedichte 2020–2021

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Edition Pen Löcker

Seitenzahl

133

Preis in EUR

19,80

ISBN

978-3-99098-085-9

Kurzbiographie AutorIn

Peter Paul Wiplinger, geb. 1939 in Haslach, Gymnasium in Hall in Tirol, lebt in Wien.