Andrei Bitow, Leben bei windigem Wetter

andrei bitow, leben bei windigem wetterNirgendwo weht der Wind so aufgekratzt wie an der Grenze zwischen Stadt und Land, zwischen Vorsteppe und Vorstadt. Menschen, die in diesem Aufmarschgebiet für windiges Wetter wohnen, erleben während eines Tages extreme Höhen und Tiefen ihres Lebens. Sollte jemand in dieser Gegend gar Schriftsteller sein, wird er täglich aufgerieben zwischen Sinn- und Schreibkrise.

Andrej Bitows zwei Erzählungen vom „Leben bei windigem Wetter“ sind um 1960 entstanden. In der russischen Literatur egal welcher Epoche müssen immer zwei Geschichten erzählt werden, einmal als Text, der oft als ewiges Manuskript durch die Hände der Untergrundleser geht, und ein andermal als Geschichte der Verhinderung, Verdrängung und des Wegduckens aus dem Literaturbetrieb.

So erzählt der erste Teil in abgerundeter durchkomponierter Form von einem Schriftsteller, der endlich aus der Stadt abhauen kann, hinaus auf die Datscha. Aber kaum ist er dort, erfährt er eine Schreibkrise und versucht mit seinem kleinen Sohn zu spielen.

„Er hatte auf einmal so viel Zeit, dass es Mühe kostete, sie überhaupt zu verbringen.“ (8)

Doch spätestens gegen Mittag überfällt ihn große Unruhe, er muss zurück in die Stadt, um irgendjemanden zu treffen. Zwischen den entleerten Häuserzeilen ist freilich niemand für ihn da, weil alle draußen in ihren Datschen sind.

Die Zeit war regungslos, die Tage aber vergingen. (12)

So bleibt jeden Tag die Witterung als einzige Aufregung, meistens ist es der Wind, der eine sogenannte Aufbruchsstimmung vermittelt. Besonders Haut- und Haar-wirksam weht er an der Station der Vorortlinie, wo die Geleise in einer Schneise aus Brachland liegen, quer zu Stadt und Land.

Mit der Zeit nimmt das „Familienspiel“ überhand und lässt das Schreiben in den Hintergrund treten. Die Idylle gefährdet den Nimbus als Schriftsteller, der Held hat doch nicht Jahre lang für die Kunst gekämpft, damit er schließlich Zeit tot schlägt. Wenn man aber im Sinne der Postmoderne die Literatur als Spiel auslegt, lässt sich vielleicht beides vereinbaren, die unpolitische Idylle auf der Datscha mit der revolutionären Metaebene der Erkenntnis.

Ab und zu kommt Vater zu Besuch und sieht nach dem rechten, er versorgt ihn auch mit frischen Lebensweisheiten aus der Stadt. So sieht man bei genauerem Hinsehen, dass die meisten Tiere schräg laufen (28), eine Eigenschaft, die bei schrägen Menschen zur Formulierung führt, dass sie ein „hohes Tier“ seien.

Da in russischen Erzählungen immer wieder Pistolen vorkommen, sei es bei Duellen oder Suiziden, nimmt sich der Aussteiger beim nächste Stadtbesuch eine Pistole mit aufs Land und ballert ein wenig auf einer Brache herum. Aber dieses Animiergerät bringt die Kunst nicht voran, Bewegung entsteht am ehesten, wenn man sich vom Wind treiben lässt, am besten die Gleise entlang. (59) Vielleicht ist es Glück, was in diesem Sommer auf der Datscha geschieht, aber darf man sich dieses intime Geheimnis eingestehen?

Andrej Bitow gilt als Pionier der sowjetischen Postmoderne, was ihn naturgemäß ständig in Schwierigkeiten bringt. Ein Wesenszug der Postmoderne ist die Metafiktion, womit das Geschriebene ironisiert, relativiert oder sonst wie in Frage gestellt wird. Das führt automatisch zu Verwerfungen mit der Partei, wo die Metaebene bekanntlich die Realität sein muss.

Um diesem Dilemma zu entkommen, werden manchmal zwei Geschichten miteinander verknüpft, damit sie sich in einem doppelten Realismus gegenseitig in Schach halten.

Der runden Datschaerzählung ist deshalb die zeitnah entstandene Aufzeichnungs-Suite „um die Ecke“ beigefügt. Mit der Erklärung „Aufzeichnungen eines Einzelkämpfers“ versehen, geben Eintragungen zu einem fiktiven Tagebuch einen Eindruck über das Ringen der Gedanken im Kopf des Schriftstellers.

Im harten Vorspann „die Ecke“ wird einem Landvermesser ähnlich ein Pflock eingeschlagen, um den dann die weiteren Überlegungen „um die Ecke“ herumzuturnen haben.

Im Pflockereignis träumt der Erzähler, dass er an der Wand steht und ein Kongress sich über ihn lustig macht und denunziert. Manche Wortmeldungen stammen gar aus Kafkas Prozess, womit die Referenten ihre Kompetenz beweisen wollen.

Im besten Fall ist diese Wand in einem Traum aufgestellt, sodass die Hinrichtung scheinbar folgenlos bleibt. Immerhin gehen die absurden Flashs monatelang weiter. „Wir sind Ameisen, die nach Wörtern suchen, aber wozu“ (70), selbst wenn wir alle Wörter gefunden hätten, fehlen uns immer noch die entscheidenden.

Während im Kopf ständig neue Jahreszeiten des Bewusstseins aufziehen (81), schreiben wir für nichts und wider nichts. (93) Einmal scheint eine Geschichte ziemlich gelungen zu sein, ein Greis verbringt darin sein Leben in Einsamkeit (95) und wartet, dass ihn Mädchen besuchen, aber es ist wohl wieder eine dieser Geschichten, die entstehen, wenn der Schriftsteller die Augen zu weit aufreißt.

Wenn Schriftsteller die Augen aufmachen, sehen sie Prostitution. (122)

Sobald der Erzähler von seinen Überlegungen aufblickt, stößt er überall auf Vorbereitungen der Behörden, ihn zu beerdigen. Die Resignation lässt sich nicht aufhalten.

Meine Abhandlung entzieht sich meiner Aufsicht und Reichweite. (100)

Auch diese Geschichte über die Schreibkrise endet mit einem Glücksanfall. „Das Hemd riecht plötzlich nach Gewitter.“ (130) Vielleicht wäre es wieder an der Zeit, die Datscha in Toksovo als Glück zu empfinden.

Im Nachwort der Übersetzerin Rosemarie Tietze ist die Versöhnung mit der eigenen Schreibgeschichte angesprochen, als der Autor kurz vor seinem Tod 2018 noch einmal auf das Gut Toksovo nördlich von St. Petersburg kommt und im Rollstuhl jene Strecken abfährt, die er seinerzeit mit dem Sohn im Kinderwagen 1963 angefahren ist. Dabei ist auch der wichtigste Satz der Postmodernisten erwähnt: Wenn du eine Schreibkrise hast, schreib einfach über die Schreibkrise, der Rest ergibt sich von allein.


Andrej Bitow, Leben bei windigem Wetter. A. d. Russ und mit einem Nachwort von Rosemarie Tietze [Orig.: Aptekarskij ostrov, Moskau 2013]
Berlin: Suhrkamp Verlag 2021 (= BS 1526), 153 Seiten, 20,60 €, ISBN 978-3-518-22526-4

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: Andrej Bitow, Leben bei windigem Wetter
Wikipedia: Andrej Georgijewitsch Bitow

 

Helmuth Schönauer, 02-01-2022

Bibliographie

AutorIn

Andrej Bitow

Buchtitel

Leben bei windigem Wetter

Originaltitel

Aptekarskij ostrov

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2021

Verlag

Suhrkamp Verlag

Reihe

BS 1526

Übersetzung

Rosemarie Tietze

Seitenzahl

153

Preis in EUR

20,60

ISBN

978-3-518-22526-4

Kurzbiographie AutorIn

Andrej Bitow, geb. 1937 in Leningrad, starb 2018 in Moskau.