Barbara Tilg, Weltachse

barbara tilg, weltachseWenn jedem Menschen eine eigene Welt innewohnt, müsste man mit diesen Welten kommunizieren können, indem man sich ihre Weltachsen unter die Lupe nimmt.

Barbara Tilg stellt in ihren fünf Erzählungen ein paar dieser „Weltachsen“ vor, die teils sichtbar aus den Menschen hinausragen als Defekt, teils unsichtbar erahnt werden müssen im geduldigen psychologischen Gespräch.

In der titelgebenden Aufmachergeschichte stirbt in einem Bergbauerndorf ein Held alten Schlages, wie er in den Genres Heimatmuseum, Ahnengalerie und Heimatliteratur gerne ausgestellt wird. Unabhängig vom Lauf der Welt haben diese Ikonen ein schräges Schicksal zu tragen, ihre Achse steht schräg aus ihrem Schicksal hinaus und sie ecken höchstens an, wenn sie ihren privaten Globus anwerfen und in Rotation bringen.

Der Held Kohler hat sich die Welt zu einer Werkstatt ausgebaut, für den Besucher wirkt es umgekehrt, dieser sieht die Werkstatt als Welt. Die Gegenstände haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun, es handelt sich um assoziative Gebilde, die einzig vom Magnetismus ihres Schöpfers zusammengehalten werden. Einmal spricht er von der Weltachse, die zumindest für ihn im Lost sein müsse, wenn schon die Welt schräg steht.

Das Leben des Sonderlings schwankt zwischen Tagesform und Welterkenntnis. Einmal sitzt er über einem Haufen Gutscheinen und möchte diese irgendwie einlösen, ein andermal besticht er durch kluge „Wolfsäußerungen“, wonach der Wolf wieder zurückkehren müsse in sein angestammtes Alpenrevier. – Als Kohler stirbt, wird er in der Werkstatt aufgebahrt. Im Nachruf lässt sich das Romantische eines Sonderlings besonders innig würdigen.

Eine ähnliche Verschiebung der Weltachse macht die Skatboarderin in der Landeshauptstadt durch, als sie mit einem Strichcode auf der Stirn ihre Übungen vor dem Landhaus absolviert. Der Ich-Erzähler nimmt Kontakt zu ihr auf und lässt sich allmählich in ihre „tätowierte Stadt“ (37) einführen.

Die Künstlerin erzählt von ihrer Spezialität, nämlich die Landschaft zu tätowieren. Bei genauerem Hinsehen ist alles ein Tattoo, auch ein Gespräch ist meist etwas, was sich als Pigmentierung der Haut abspielt: Durch die Hautoberfläche in die Tiefe gehen, um mit dem Körper zu kommunizieren! Der Erzähler ist mit diesem Tiefgang überfordert und zweifelt, ob auch die Literatur nach dem Prinzip Tattoo funktionieren kann.

Vom „Abgrund“ (61) behandelt die Lebensgeschichte des Kurt, der Gesellschafts-verloren in Abfallcontainern herumwühlt. Seine Müll-Karriere hat ihn vom Lkw-Fahrer, über den Zulader hin zum Müllpädagogen geführt, als er den Bewohnern das Mülltrennen beibringen sollte.

Der Ort heißt sinnigerweise Grimm und scheint für Kurt nur aus Müll zu bestehen. Aber er hat sich mit Kunst dagegen gewappnet. Als ein abgetrennter Arm gefunden wird, ist er sich sofort im Klaren darüber, dass es sich um den Arm der Hölderlin’schen Diotima handeln muss. Er habe ein „Hummelhirn“ sagt er, wenn er auf eigenen Zeitebenen mit eigenartigen Geschichten mit sich selbst unterwegs ist. Traum und Wirklichkeit werden von der gleichen Trennlinie von einander ferngehalten, es ist der Abgrund.

„Irgendwohin“ (81) ist das Ziel der Heldin Ida, die sich am besten mit dem Wort „antriebslos“ beschreiben lässt. Sie ist etwas aus der Zeit gefallen und für ihren Mann nicht mehr erreichbar, so sehr sich dieser auch um sie bemüht.

Aus ihrer Trance der Traurigkeit bricht sie manchmal in der Nacht aus, wenn sie spontan an die angrenzende Tankstelle geht, um sich Zigaretten zu kaufen. Die Fernfahrer begutachten sie aus einer anderen Welt heraus, wenn sie aus den Kabinen herunterglotzen. Manchmal gibt es ein Gespräch, dann springt Ida aus der Einsamkeit hinein in die nächstbeste Kabine und lässt sich den Traum von der großen Welt erzählen, ehe alle wieder ihre Tour fortsetzen.

Später legt ihr Mann den Arm um sie, sie hat ein Gedicht gebastelt aus Schilf, es handelt von Glückskindern.

Im „Mädchenstück“ (107) geht Fanny in der Studentenwelt hinter dem Fluss verloren. Ihr Vater ist an der Universität und versucht Kontakt zu ihr zu halten, aber es führt kein Weg zu ihr, sie will die Welt retten, und sein Wissen reicht nicht aus dafür.

Beim Flussfest schauen die Eltern zu, wie sie die Slackline besteigt. Nur jetzt nicht stürzen, denkt sie, während die Geschichte mit den berüchtigten drei Punkten im Unendlichen endet.

Barbara Tilgs Heldinnen sind romantisch, holzschnittartig, melancholisch, sinnentrückt oder fugitiv. Es genügt schon eine einzige Abweichung, um aus jener unausgesprochenen Norm hinauszufallen, welche die Unauffälligkeit garantieren würde. Den Helden ist auch nicht zu helfen, weder von eingeschleustem Personal noch von diskreten Ich-Erzählern.

Und dennoch haben die Figuren alle noch Glück, sie sind zumindest ansatzweise in ihrer Entrücktheit und Marotte beschrieben und in literarischen Porträts aufbewahrt. Wenn die Weltachse freilich einmal fundamental verschoben ist, hilft auch keine Literatur mehr, steht zu befürchten.

Barbara Tilg, Weltachse. Erzählungen
Innsbruck: Tiroler Autorinnen und Autoren Kooperative TAK 2022, 130 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-900888-75-6

 

Weiterführender Link:
TAK: Barbara Tilg, Weltachse

 

Helmuth Schönauer, 28-06-2022

Bibliographie

AutorIn

Barbara Tilg

Buchtitel

Weltachse

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

TAK

Seitenzahl

130

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-900888-75-6

Kurzbiographie AutorIn

Barbara Tilg, geb. 1963 in Zams, lebt in Landeck.