Ursula Fricker, Fliehende Wasser
Ein Toter liegt im Straßengraben, er ist 54 Jahre alt und Silberschmied in Schaffhausen. Vermutlich betrunken.
Mit scharfem Schnitt setzt der Roman ein, und noch ehe man als Leser an eine Unfallmeldung glauben mag, meldet sich schon die Erzählerin zu Wort, mein Vater Simon Brock war nie betrunken.
Ausgelöst vom Tod des Vaters, beginnt die Erzählerin Ida alles zusammenzufügen und legt die Erzählteile wie ein Puzzele vor sich auf. Das Leben des Toten ist offensichtlich so gewöhnlich verlaufen, dass nicht einmal der Tod etwas Besonderes ist.
?Seine Zukunft war längst vorbei.? (162) lautet die Parole. Die Tochter hat ein schlechtes Gewissen beim Erzählen, denn mehrmals hat sie um den Tod des Vaters gebetet. ?Manchmal bete ich für Vaters Tod. So was ist verboten zu beten.? (145) Aber wenigstens hat es genützt.
Die Geschichte des Vaters ist durchgehend aufgeschnitten und erweist sich als Geschnetzeltes der Monotonie. Der Knackpunkt muss irgendwann beim Schweizer Militär passiert sein, als Simon Brock plötzlich von einem seltsamen erotischen Gefühl gestreift wird. Der Bekannte seiner Bekannten hat es ihm angetan, er nimmt dessen Foto von der Wand, faltet es und trägt es ein Leben lang mit sich herum. Kein Outing ist die Folge, der Lebenslauf wird schweizerisch, genau und sorgfältig angeworfen. ?Dinge perfekt ausführen!? - Das ist der Lebenssinn.
Es kommt zu einer trivialen Hochzeit, die Frau will eigentlich bloß aus dem Dorf abhauen, geschlafen wird stumm und ungekeucht auf der Hochzeitsreise, und pünktlich stellen sich die Kinder ein. Aber diese authentische Erotik ist verschwunden, stattdessen tyrannisiert der Vater die Familie mit seinem missionarischen Gesundheitswahn. Und leidet unendlich an der misslungenen Verdauung. Krämpfe schlingen sich über den Bauch und kein Furz verschafft Erlösung.
So also betet die Tochter immer wieder, dass dieser Spuk ein Ende haben möge. Und eines Tages fährt der Vater wieder mit dem Rad hinaus bis ans andere Ende der Schweiz und wird im Straßengraben gefunden. Er hat schließlich doch nicht das Wasser genommen, wie wohl ihn die Selbstmörderbrücke bei Schaffhausen immer wieder fast ins Wasser gezogen hätte.
?Fliehende Wasser? ist ein präziser Roman über das Unausweichliche eines gewöhnlichen Lebens. Einmal die falsche Weiche gestellt, versucht der Held in Schweizer Manier, die Chose bis zum Ende durchzustehen. Wie beim Mühlrad zuhause bei seiner Müllerfrau gelingt es dem Wasser elegant zu entkommen, aber das Mühlrad sitzt fest im eigenen Kreislauf. Ursula Frickers Roman ist lakonisch, makaber und trocken prägnant, trotz des feuchten Titels.
Ursula Fricker, Fliehende Wasser. Roman.
Zürich: Pendo 2004. 167 Seiten. EUR 16,90. ISBN 3-85842-575-3.
Helmuth Schönauer, 19-01-2005