Evelyn Andergassen, Atlantikpassage

evelyn andergassen, atlantikpassageEinen Südtirol-Roman erkennt man ohne Zweifel daran, dass im ersten Absatz jemand auf Italienisch einen Kaffee bestellt. Mit dem simplen Ausruf „Espresso“ oder „Cappuccino“ ist dann klargestellt, dass die Zweisprachigkeit längst selbstverständlich geworden ist und Bozen, was die Multikultur betrifft, es locker mit der EU-Hauptstadt Brüssel aufnehmen kann.

Evelyn Andergassen lockt die Leser also mit dem beherzten Ausruf „Cappuccino“ in den Roman, und solcherart eingespeichelt werden wahrscheinlich manche zuerst selbst etwas trinken, ehe es in den Roman „Atlantikpassage“ hineingeht.

Im Mittelpunkt steht ab jetzt der ehemalige Bozner Stadtpolizist Oswald, der nach einer kleineren Gehirnoperation etwas Probleme mit der Zeitenfolge und diversen Kausalitäten der Ereignisse hat. Das ist vielleicht das Hauptthema des Romans: Wie lässt sich ein alterndes Gehirn durch den Alltag steuern, ohne dass Entgleisungen schlagend werden und die Umwelt sich von einem abwendet.

Oswald hat den Cappuccino bei einem Chinesen bestellt, denn jemand Einheimischer würde nicht mehr in der Gastronomie arbeiten. Gerade als er sich über die Auswüchse moderner Zeiten im inneren Monolog hermachen will, merkt er, dass er das Rubbellos von der Schutzschicht befreit hat, und jetzt liegt sie da, die Gewinnzahl, lauter Nullen und ein Fünfzehner davor.

Geld verändert die Welt, nichts ist mehr so, wie der Rentner es sich vorgestellt hat, jetzt sitzt er da mit einem Gewinn von hundert und fünfzigtausend Euro und weiß nicht, was er damit tun soll.

Der Einbruch der Kohle in die schlichte Welt des Rentners zeigt erst richtig, was es mit einem Leben auf sich hat, wenn nichts los ist. Die Kinder sind außer Haus, die Frau ist nur phasenweise erträglich, die Freunde werden unverschämt, wenn sie etwas brauchen, und im persönlichen Erinnerungsbecken ist Leere.

Der bisherige Höhepunkt war eine Atlantikfahrt als Kriegsgefangener, als er von der deutschen Wüstenfront erlöst nach Amerika verschifft wurde, sein Lebensfreund Rudi, der ihn dabei begleitet hat, ist freilich schon tot.

Was liegt also näher, als mit dem Losgewinn eine Atlantikfahrt zu buchen, freilich zusammen mit seiner Frau Marlen, obwohl diese das Glück in dieser Größe gar nicht verdient hat.

In skurriler Einfalt wird die Atlantikfahrt absolviert, dabei zeigt sich, dass schlichte Menschen nicht für die Größe von Glücksbildern geeignet sind, wenn diese in diversen Medien als Glück ausgelobt sind. Auf der „Queen Mary“ steht die Queen-Suite bereit, damit auch halbwegs das ganze Geld draufgeht, welches das Los gebracht hat. Denn außer der Schiffsfahrt soll niemand in den Genuss des Los-Verzehrs kommen.

Eigenbrötlerisch lässt sich Oswald über den Atlantik schiffen, bei bestimmten Wetterlagen steht ihm der verstorbene Kriegskamerad zur Seite, wenn die Reling ins Schwanken kommt. Eine gewisse Gerda, stellt sich als Weltfrau vor, die schon zum zigsten Mal die Reise unternimmt. Sie ist freilich so „von Welt“, dass es der ehemalige Stadtpolizist vorzieht, das Dinner einsam in der Suite einzunehmen.

In ein paar Schüben kommt unaufgefordert die Zeitgeschichte zum Vorschein. Oswald musste sich nach seiner Kriegsgefangenschaft im zweisprachigen Bozen neu erfinden, während seine Frau, aus dem Protektorat vertrieben, sich einfach an den deutschen Teil der Bevölkerung anschloss. Nach der „Feuernacht“ freilich hat man dem Italienisch des Oswald nicht mehr über den Weg getraut und ihn in den deutschen Stadtteil überstellt.

Immer, wenn es nichts zu erzählen gibt, muss die Familie herhalten. Das ist bei einer Frau von Welt genauso wie bei einem Bozner Ordnungshüter; während draußen die Wellen hochgehen, schlagen innen die Familiengeschichten Wellen.

Nach der Ausschiffung in New York steht plötzlich der Sohn neben Oswald, was dieser für eine simple Sinnestäuschung hält. Seit seiner Operation weiß er ja nicht genau, in welche Hirnlade er greifen muss, um etwas abzurufen.

Oswald geht sehr vernünftig mit seiner Bilderwelt um. Die Ehe ist in Wahrheit anstrengend, aber wenn sie schon so lange besteht, dass man sich gegenseitig nicht mehr kränken kann, dann soll man sie nicht vorzeitig beenden.

Zu Hause geht die Atlantikpassage in stundenlanges Erzählen über. Alle müssen informiert werden, wie der lädierte Held nach New York fährt und vom Sohn heimgeholt wird.

Irgendwann ist es zuviel, und Oswald stirbt, nachdem er sich brav zum letzten Schlaf hingelegt hat. Marlen spricht mit seinen hinterlassenen Kleidern und trauert. Als sie einen Zeisig sieht, wird sie daran erinnert, dass sie das nächste Frühjahr als Witwe erleben wird.

Evelyn Andergassen erzählt unspektakulär und arbeitet dabei die zwei wesentlichen Elemente bestens heraus: a) In der Außenansicht ist eine Ehe oft sehr trivial. b) Die Ereignislosigkeit ist das wahre Glück, das sofort zusammenbricht, wenn man sich mit zu großen Erwartungen daran übernimmt.

Evelyn Andergassen, Atlantikpassage. Roman
Bozen: Edition Raetia 2023, 224 Seiten, 21,00 €, ISBN 978-88-7283-861-7

 

Weiterführende Links:
Edition Raetia: Evelyn Andergassen, Atlantikpassage

 

Helmuth Schönauer, 24-01-2023

Bibliographie

AutorIn

Evelyn Andergassen

Buchtitel

Atlantikpassage

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2022

Verlag

Edition Raetia

Seitenzahl

224

Preis in EUR

21,00

ISBN

978-88-7283-861-7

Kurzbiographie AutorIn

Evelyn Andergassen, geb. 1953 in Südtirol, lebt in der Steiermark.