Brigitte Knapp, Fischer am Berge
Im Theater gibt es zwei Möglichkeiten, um eine Stück zu inszenieren. Entweder die Direktion hat ein Regiekonzept und sucht ein passendes Stück dazu, oder es hält bereits ein Stück in der Hand und sucht passendes Regiepersonal dazu.
Brigitte Knapp ist für ihren Erzählband „Fischer am Berge“ offensichtlich jenen Weg gegangen, wo ein vorhandenes Erzählkonzept hinterher mit (Frauen-)Schicksalen ausgestattet wird, bis genügend Plastizität vorhanden ist. Den Heldinnen wird nur soviel Schicksal zugestanden, als sie benötigen, um den Kommunikationsstrang offen zu halten. Dadurch wird letztlich ihre Sprachlosigkeit sichtbar, denn sie sind Platzhalter eher für eine Rolle und weniger für sich als Person.
Am griffigsten lässt sich diese Erzählkonstellation in der ersten von acht Geschichten herauslesen, worin ein Stück Schmuck, von Frauen in die Hand genommen, Gedanken auslöst. In Bogota muss eine Frau unter prekären Verhältnissen den Schmuck bearbeiten, dabei sticht sie sich ständig in den Finger, wenn sie die Perlen auffädelt. In Europa hingegen wird eine Frau von seltsamen Liebesgedanken gestochen, während sie den Schmuck anlegt. Auch in der Liebe gibt es prekäre Verhältnisse, welche die Gefühle unter Stress setzen.
In der Titelgeschichte „Fischer am Berge“ (42) steht im Mittelpunkt ein unauffälliges Bild, das durch seine seltsame Perspektive mit der Zeit alle Blicke von Anwesenden auf sich zieht. Im Gebirge klafft ein See, der während der Betrachtung immer tiefer gehende Komponenten hervorbringt, bis schließlich die schauende Seele getroffen wird. Ab nun lässt sich nicht mehr sagen: Spricht das Unterbewusstsein oder das Bild? „Fischer am Berge“ arbeitet sich nicht nur ins Innere der Betrachter hinein, es speichert auch alle bisherigen Sehvorgänge, sodass es die jeweils letzte Person dieser Kette von Schauenden mit einer epochalen Gedankenkette der Geschichte zu tun bekommt.
Der Inbegriff von Beschaulichkeit spielt sich meist am Gartenzaun ab, wenn die Blicke in den Nachbargarten verschiedene Begierden oder Abwehrreaktionen auslösen. Den Blick über den Zaun muss man sich erarbeiten, sei es passiv oder aktiv. Einer 80-jährigen fällt es ein Leben lang schwer, solche Blicke zuzulassen, weil sie ahnt, dass Blicke über den Zaun immer tiefer gehen und in tiefer Intimität enden. Jetzt wo ihr Mann tot ist, kümmert sie sich um diese rätselhaften Zeichnungen, die er hinterlassen hat. – Draußen freilich steht der alte Alm-Öhi und merkt, während er über die Nachbarin räsoniert, dass man immer auf sich selber schaut, wenn man in benachbartes Gebiet blickt. Für die Kinder freilich ist wichtig, dass die Komposition stimmt: Wenn der Öhi gut am Zaun steht, sieht er auch eine gute Geschichte dahinter.
In der Sequenz „Mut und Drachenglut“ (30) holt eine Ich-Erzählerin Beschwörungsformeln aus Kinderbüchern hervor und versucht diese auf die Erwachsenenwelt anzuwenden. Kann man in den Kopf eines Gegenübers hineinblicken und die darin sitzenden Gedanken verstehen, wenn man selbst nichts Hilfreiches im eigenen Kopf findet? Aufmunterungen ohne Unterlass können den Kopf sprengen, und dann bleibt diese Leere, die wieder in einen Kinderreim mündet:
„In meinem Leben gab’s viele Dramen. – Die wenigsten sind wirklich eingetreten.“ (38)
Unter dem schroffen Titel „Haut“ (92) ist die Überlegung angesprochen, dass es zwar nur einen Stichs bedarf, um unter die Hhaut zu gehen, dass es aber ein quälend langer Vorgang ist, bis sich eine Schlange gehäutet hat. Erschwert wird dieser Tatbestand durch die Vorgabe, dass es nicht die Termine sind, die uns prägen, sondern die Zeit dazwischen. Ein Paar im Date-Status muss diese Tücken der Zeit erst austarieren, ehe es sich auf sich selbst konzentrieren kann.
„bröckeln“ (99) wird ein amorpher Vorgang der Dekonstruktion genannt, der sich an keinen bestimmten Zeitplan hält. Es gibt nichts, was nicht bröckeln könnte. Das muss die Erzählerin erfahren, als sie offensichtlich jemanden überfährt und Fahrerflucht begeht. Ihr Geliebter ist Polizist und müsste eigentlich von dem Unfall wissen. Allmählich steigert sich die Heldin in ihren Unfall in einem Ausmaß hinein, dass nur ein Psychotherapeut helfen kann. Aber auch diese Sitzung endet in „Fahrerflucht“. Tage später zerbröckelt jegliche Wahrnehmung in Angstpartikel. Die Heldin überfährt abermals einen Mann und bleibt stehen, um ihm quasi die Totenmaske abzunehmen: es ist der Psychotherapeut.
Brigitte Knapp erzählt „Konstellationen“, die jeden von uns streifen könnten. Wir Leser docken vor allem an den Aufklärungsplots an und fühlen uns in die Geschichte mit hineingenommen. Ob Schmuck, Bild, Haut oder Therapie, – alles ist Bühne für eine Erzählung.
Brigitte Knapp, Fischer am Berge. Erzählungen
Innsbruck: Edition Laurin 2023, 128 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-903539-24-2
Weiterführende Links:
Edition Laurin: Brigitte Knapp, Fischer am Berge
Homepage: Brigitte Knapp
Helmuth Schönauer, 11-06-2023