Thomas Stangl, Diverse Wunder

thomas stangl, diverse wunder„Es ist kein Verdienst, diesen Ort erfunden zu haben, zufällig bewohne ich diesen Ort.“ (9) – Endlich einmal wird durch diverse Wunder unser auf uns selbst fixiertes Wissen durcheinandergebracht und an einem bislang unbekannten Ort neu aufgesetzt.

Thomas Stangl verkündet im Prolog mit drei Absätzen, was es mit den „Diversen Wundern“ auf sich hat. Sie sind das Ergebnis eines Vorgangs in drei Schritten:
- Zuerst wird alles abgeschabt, was überflüssig ist.
- Diese übriggeblieben Sätze sind von einer Klarheit und Kürze, dass wir meinen, sie alle schon zu kennen.
- Schließlich aber werden sie an einem Ort neu zusammengesetzt, den es bisher noch nie gegeben hat. Und dieser Ort ist sinnigerweise die Existenz des Ich-Erzählers und später die des Lesers.

Dieser Dreischritt der Metamorphose muss von den Lesern rückabgewickelt werden, damit sich die Lektüre ausbreiten kann im Lebensgefühl. Das Wunder als Fallbeispiel für Verwandlung nistet sich im Gedächtnis ein und verfestigt sich in jenen Geschichten, die dem Leser schon einmal als Wunder widerfahren sind.

Die etwa achtzig „Text-Aufpoppungen“ sind lose miteinander verbunden wie das berühmte Rhizom, das oft Text-unterirdisch in einem Buch mitläuft. Die Geschichten setzen unvermittelt mit einer wagemutigen Überschrift ein, die sich sofort vom Text entfernt, sobald sie diesen angestoßen hat. Aus dem Gewebe von Träumen, Geschichten, Bausteinen des Hörensagens und der literarischen Empfindsamkeit lassen sich vier Stränge herausschälen, an denen die Wunder zum Leser hin abgeseilt werden.

Einmal sind es Verwerfungen und Verklumpungen von Ereignissen, die mit der Existenz des Autors als Schöpfer dieser Textwelt zu tun haben.

Zum zweiten drängen sich die Ereignisse oft aufeinander zu um etwas wie eine Fortsetzung anzudeuten. Wenn ein Ereignis vielleicht schon in der Lektüre versickert ist, wird es abermals geweckt und aufgerufen, indem plötzlich eine Fortsetzung angehängt ist. Beispielsweise folgt der „Vorgeschichte“ die Fortsetzung einer Vorgeschichte, „an diesem Ort“ wird in regelmäßigen Abständen Ort zwei und drei angefügt, während das Ende gleich dreimal ansetzt, um die Wundergeschichten mit Verve ausklingen zu lassen.

Als dritten Strang könnte man die sorgfältige Spiegelung eines Motivs in ein wundersames Gegenteil ansprechen. Dabei wird auf einer Doppelseite die Geschichte links durch eine unerhörte Begebenheit rechts relativiert und in zusätzliche Schwingung gebracht. So wird das klassische Gegensatzpaar Kunst und Natur mit zwei Notizen unterlegt, wonach ein Acker in seiner braunen Konsistenz als Zufluchtsort für Überlebensstrategien herhalten muss. Dabei wird alles Mögliche von Kunstsamen bis Kunstdünger darauf ausgestreut. Der Natur auf der anderen Seite bleibt nur mehr das, was übrigbleibt. Natur ist also das Übriggebliebene, das jemand in seiner Kunstausübung vergessen hat.

Die vierte Möglichkeit, durch die Geschichten zu surfen, besteht im Benützen verlässlicher Pfade, wie sie Genres als Sicherheit vorgeben. Das Bemühen, diese Genres zu benützen oder zu umschiffen, führt zu eigenartigen Beschreibungen, was diese Text im Augenblick ihrer Anwendung gerade nicht sind. So wird Venedig in einen Echoraum gesteckt, worin es sich selbst mit Klischees beschallt. Eine Fliege (84) wird Heldin des kürzesten dankbaren Textes.

Eine Fliege (Strategie) // Eine Fliege begann zu sprechen. (84)

Die sogenannte Erzählstrategie ist bereits in der Überschrift angewendet, indem die Strategie wörtlich vorkommt. Eine gewisse Unsicherheit über die Heldin besteht darin, dass damit ein Insekt wie die Stubenfliege gemeint sein kann, oder ein Accessoire, das jemand festlich um den Hals gebunden hat. Beides ergibt einen Sinn, wenn es zu sprechen beginnt. Denn wer hat nicht schon einmal mit einer Fliege gesprochen, während er sie zu verscheuchen suchte, und wer ist bei einem Festakt nicht schon einmal auf eine Fliege gestoßen, die als Querbinder wundersame Dinge von sich gegeben hat.

Quer über diese Erzählfurchen wölben sich seltene Ereignissen, skurrile Helden und groteske Sachverhalte. Jemand, der das Einschlafen sorgfältig plant, kommt nicht zum Träumen, weil er das Drehbuch für den Traum nicht hinkriegt.

Ein Autor wacht mitten im Literaturbetrieb auf und erfährt, dass er um 1900 einen Literaturpreis erhalten wird. (20) Es beruhigt ihn mitten im Alptraum, dass er seine Karriere ohnehin rückwärts geplant hat, weil in der Zukunft kein Platz dafür ist.

An anderer Stelle wird der Autor als leere Hülle in die Realität gehängt, worauf alle erschrecken und der Literatur misstrauen. Beruhigung verströmt freilich der angrenzende Bauer, dem die Kartoffeln ähnliche Streiche spielen wie die Texte dem Autor. (35)

Der Besuch einer Grenzstadt ist immer ein Abenteuer, auch wenn die Grenze zwischendurch verschwunden ist.

Und das Ende wird in drei Anläufen gestartet, als unmotivierter Tod, als befriedigende Wendung, als Totenwache. – Man erschrickt als Leser: Das sind genau die drei Motive, die seit Jahrhunderten die Literatur beflügeln.

Thomas Stangl, Diverse Wunder. Eine paar Handvoll sehr kurzer Geschichten
Graz: Droschl Verlag 2023, 112 Seiten 20,00 €, ISBN 978-3-99059-125-3

 

Weiterführende Links:
Droschl Verlag: Thomas Stangl, Diverse Wunder
Wikipedia: Thomas Stangl

 

Helmuth Schönauer, 14-06-2023

Bibliographie

AutorIn

Thomas Stangl

Buchtitel

Diverse Wunder. Eine paar Handvoll sehr kurzer Geschichten

Erscheinungsort

Graz

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Droschl Verlag

Seitenzahl

112

Preis in EUR

20,00

ISBN

978-3-99059-125-3

Kurzbiographie AutorIn

Thomas Stangl, geb. 1966 in Wien, lebt in Wien.