Hannes Vyoral, EUROPA. eine reise

hannes vyoral, europa - eine reiseEine Reise durch Europa ist mit einem Brettspiel vergleichbar. Auf dem Kontinent als geographischer Unterlage zieht das lyrische Ich mit seinem Körper Spuren der Tagesverfassung. Mit der Zeit ergibt sich ein plastisches Stimmungsbild, das sich als geographisches, politisches und subjektiv-lyrisches „Kunstwerk“ lesen lässt.

Hannes Vyoral hat in den letzten Jahren ausgiebige Reisen durch Europa unternommen, die ihn im Westen bis weit in den Atlantik hinaus getrieben haben, im Osten nach Moskau oder in die Ukraine. Vieles geschah zu einer Zeit, als das noch möglich war. Überhaupt sind Reiseberichte der Gegenwart gekennzeichnet vom Gefühl des „letzten Blicks“, denn entweder versinken die geschauten Inseln im Meer, zerfallen die bestiegenen Gipfel im Klimawandel, oder versinken die nostalgischen Reminiszenzen an die Habsburger-Monarchie endgültig im kriegerischen Schutt.

Und gleichzeitig sind die Menschen in Bewegung, sei es, um neues Quartier nach der Flucht zu finden, oder sei es auf der Suche nach einem touristischen Kurzzeitasyl, wenn sich das Leben zu Hause in den betonierten Großstädten nicht mehr aushalten lässt.

In diesen Bewegungsströmen wird es zunehmend schwieriger, leere Räume zu finden, worin man der angelesenen Erinnerung huldigen und die romantisch geschulte Seele auslüften kann. Das moderne lyrische Ich, mittlerweile auch im Wettstreit mit diversen KI-Programmen, hat es zunehmend schwerer, authentisch „Aufzeichnungen & Gedichte“ zu verfassen.

Hannes Vyoral bringt diese flüchtigen Strömungen zusammen, indem er sich an drei Komponenten hält, die als Zitate dem Kompendium vorangestellt sind.

  • Man möge mir nicht vorwerfen, ich verlöre mich in Einzelheiten; Reisende machen das so. (Xavier de Maitre, 1795)
  • An Scheußlichkeit kaum zu überbieten, wie eigentlich das ganze Land. - Kann ich nicht bestätigen. Aber ich war halt schon mal dort. (Zwei Standard-Postings, 2018)
  • Europa hat die Form eines Gehirns. (Mircea Cărtărescu, geb. 1956)

Diese drei Einschätzungen zum individuellen Europa-Trip dienen als Dramaturgie für die 318 Aufzeichnungen und Gedichte. Vor allem der kaum erkennbare Unterschied zwischen einer noch nicht endgültigen Aufzeichnung und einem nur vorläufig gültigen Gedicht halten die Einschätzungen des Autors offen. Die endgültige Form der Eintragungen entsteht ja ohnehin erst im „Europa-Gehirn“ des Lesers.

Die einzelnen Einträge unterliegen einem goldenen Schnitt der Information. In der Überschrift wird die Aktion angedeutet, die zu einer Erkenntnis führt. In der Notiz kommen entweder als Tagebuch-Notat, Gedicht-Zitat oder Empfindungssubstrat die wichtigsten Riffs zum Vorschein, die beim späteren Abspielen eine genaue Erinnerung ermöglichen. Und in der Fußnote sind schließlich die Texte verortet als geographische Angaben oder Schlüsselwort der Erinnerung.

Ein umfangreiches Bordbuch im Anhang, bestehend aus Anmerkungen und Verzeichnis der Überschriften ermöglicht es dem Leser, die Reise vorauszuahnen, ehe er diese dann mit chronologischer Lektüre für die eigene Vorstellungswelt nachvollzieht. - Aus dem Inhaltsverzeichnis lassen sich auch die Zugänge ablesen, die zu den einzelnen Gedichten geführt haben.

Schlechter Fang (26) | Schwarmbildung (33) | lyrisches Ich, das schrumpft (76) | mit mir am Stammtisch (123) | Gedankenreise (129) | Poem vom Ende in Moskau (132) | Herbst am See (141) | Blick auf die Landkarte (149) | Bosnischer Bettler (153) | Paddler und Radler (170) | Reisemüde (169).

Diese Texte lassen sich sowohl als abgewickelter Reisebericht, als auch als Methoden, die zu einem Gedicht führen, lesen.

Vielleicht sollte man „EUROPA. Eine reise“ überhaupt als Beitrag für das „emotionale Archiv“ verstehen. Nach dieser Methode werden politische, biographische und ideologische Ereignisse nicht nach Fakten, Kalenderdaten und Zitaten archiviert, sondern nach emotionalen Zugriffen auf die eigene Erinnerung.

Ein Gedicht im Stil von Hannes Vyoral greift auf das Archiv des Lesers zurück und stellt über die viralen Reiserouten des Autors eine eigene Reise her, die vielleicht schon vor Jahrzehnten geschehen ist. Die einzelnen Gedichte sind dann so etwas wie Tankstellen oder Treffpunkte, an denen sich die Europa-Reisenden treffen, um die Erinnerungsarbeit am Kontinent fortzusetzen. Kein einziger Ort nämlich ist geschichtslos, sodass Reisen immer auch etwas Historisches an sich hat, das schlussendlich in der Mythologie unter dem Atlantik endet.

Reisen macht müde und fröhlich, zeigt die Erfahrung, weshalb man beim Reisen ähnlich wie beim täglichen Laufen immer auf fröhliche Gesichter trifft. Die Angefressenen nämlich hocken überall am Kontinent vergrämt zu Hause.

Und natürlich muss das Pathos manchmal ordentlich aufgezogen werden, um an die Grenze zum fröhlichen Witz zu gelangen. „bergdrama // im handumdrehen / war er unten, / man hat ihn bisher / nicht gefunden // sextener dolomiten mit den drei zinnen (2.999 m), osttirol, österreich“ (145) Auf einer Europa-Reise spielen nationalistische Geographie-Angaben keine Rolle mehr, weshalb es egal ist, ob die Drei Zinnen in Österreich oder in Italien liegen.

Hannes Vyoral, EUROPA. eine reise. aufzeichnungen & gedichte
Oberwart: edition lex liszt 12 2023, 270 Seiten, 22,00 €, ISBN 978-3-99016-248-4

 

Weiterführende Links:
edition lex liszt: Hannes Vyoral, EUROPA. eine reise
Wikipedia: Hannes Vyoral

 

Helmuth Schönauer, 22-06-2023

Bibliographie

AutorIn

Hannes Vyoral

Buchtitel

EUROPA. eine reise. aufzeichnungen & gedichte

Erscheinungsort

Oberwart

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

edition lex liszt 12

Seitenzahl

270

Preis in EUR

22,00

ISBN

978-3-99016-248-4

Kurzbiographie AutorIn

Hannes Vyoral, geb. 1953 in Eichkogelsiedlung (NÖ), lebt in Wien und Wallern.