Rosa Pock, Ein Jahr im Leben einer Infantin

rosa pock, ein jahr im leben einer infantinEiner der geheimnisvollsten Adelstitel lautet Infantin. Damit ist ein anerkanntes weibliches Kind eines spanischen Herrscherhauses gemeint, das auf der Ersatzbank der Kindheit sitzt und auf den Einsatz wartet. Das kann lange dauern, wenn man nur an den aktuellen König von England denkt, der als Siebzigjähriger erst von seinem Infantentum erlöst wurde.

Rosa Pock lässt in ihrem „Jahr im Leben einer Infantin“ ein Tagebuch-Ich zu Wort kommen, das eine brauchbare Rolle sucht, um mit der Kunst, dem Schreiben, der Poesie und sich selbst versöhnt zu werden.

Diese Ich-Erzählerin lässt sich auf allen möglichen Bewährungsfeldern installieren, einmal als schlichte Tagebuchformulierin, welche die Fülle der Tage auf markante Sätze formuliert, – ein andermal als Sprach-Infantin, wobei das Ich den richtigen Gebrauch der Sprache lernen soll, – und zum dritten als Beziehungspartikel, das im Schatten steht. Rosa Pock als Ich-Erzählerin ist dabei mit H. C. Artmann verheiratet und nimmt dadurch in der Literaturgeschichte den Rang einer Infantin ein, die nach dem Abgang des Herrschers in das Regime seines Hauses aufrücken darf.

Auch die Zeitangabe „Jahr“ ist sehr vage zu lesen. Aus vielen Jahren hat die Schreiberin ein sogenanntes Musterjahr verdichtet, dabei ist jeden Tag etwas los, und die Erfahrungen sind dicht und fett, sind sie doch aus mehreren Jahren zusammengepfercht in schlicht wirkende Einträge.

Das Jahr ist insofern ein ungewöhnliches, als es auch publikationstechnisch aus zwei Halbjahren zusammengesetzt ist. 1995 erscheint das erste Halbjahr bei Droschl in Graz, jetzt 2023 das komplette Jahr bei Ritter in Klagenfurt. Der Gap zwischen beiden Teilen liegt zwischen dem 181sten und 182sten Tag und wird unauffällig formuliert.

„Später Herbst; heute erfolgt meine erste Eintragung nach zwanzig Jahren als Sprachmaschine in Gasthäusern. Der Übergang vom Sprechen zur Schrift ist ein undurchschaubarer Prozess verfehlter Versuche, bewusst beeinflussen zu können.“ (67)

In diesem Neustart nach zwanzig Jahren ist gleich wieder die Zielrichtung des Unternehmens genannt: die Infantin versucht im Herrscherhaus der Sprache als anerkannte Sprechmaschine aufzutreten. Die Mitakteure dieser Szenerie sind in der Hauptsache ein Narr und eine Zofe. „Heute ist es schön, Infantin zu sein und nicht Zofe.“ (10) Auf die Sprache gemünzt ist es angenehmer, in sie hineinzuwachsen als ihr mit abgenützen Handgriffen zuzuarbeiten.

Die Figur des Narren lockt naturgemäß zum Vergleich, dass es sich dabei um einen sprachlichen Narren handeln könne, zumal sich H. C. Artmann immer wieder als Sprachnarr verstanden hat.

Das schreibende Ich arbeitet sauber die Tage ab, auch wenn diese manchmal keinen Stoff hergeben. „32. Tag / Ein normaler Tag, weder Fleisch noch Fisch, ähnlich meiner Unentschlossenheit, die sich daran festhält, dass ich weder für das eine, noch für das andere zu haben bin.“ (17) Dieser Schwebezustand macht allerdings das Wesen einer Infantin aus, einerseits sind schon alle Merkmale der späteren Königin ausgeprägt, andererseits sind gewöhnliche Erlebnismuster am Werk, wie es triviale Menschen auf dem Weg zum Erwachsenwerden durchstreifen.

Oft dient das Tagwerk dazu, die eigene Konstellation auszutesten. In einem Sprachspiel werden die Anfangsbuchstaben des Wortes „Konstellation“ untereinandergeschrieben und siehe, es entsteht spontan eine Konstellation. (34) Eine andere Botschaft ergibt sich anderntags, indem Zeichen und Schriftzüge unter den Eisblumen enträtselt werden. (35)

Manchmal ist bei der Beschreibung von Alltagssinn die Methode der Jahreszeiten brauchbar, wonach sich die Dinge im Kreis bewegen und jährlich an den Ausgangspunkt zurückkehren. Dann wiederum ist es für die Sinnfindung ertragreicher, alle anstehenden Probleme in einen Topf zu werfen und ordentlich durchzukochen, bis daraus so etwas wie ein Gebet entsteht.

„92. Tag // Ein Gebet: Sorge, Trübsal, Ungemach, Albdrücken, Weh, Zerrissenheit, Heimsuchung, Nachteil, Leidenskelch, Unheil, geknicktes, blutendes, schweres Herz, Böses, Übel und Übersättigung, bleibt fern von mir.“ (37)

Der Wahrnehmungsbogen erstreckt sich über ein Vierteljahrhundert, die Probleme und Themen bleiben dabei unverändert, freilich ändert sich das Werkzeug. Der Blick darauf macht das Bild. „Der Computer lässt einen zweiten Fingerabdruck seines Benutzers entstehen. Abnützung hinterließ die Schreibmaschine.“ (121)

Über die Jahre hinweg hilft die Schutzbehauptung, die Sprache sei in einem Kloster am besten aufgehoben. Die Infantin flüchtet mehrmals in ein solches, um sich und die Sprache zu beruhigen. Immerhin bleibt das Ziel des Unterfangens stets vor Augen: der Sinn jeder Sprechmaschine ist es, zu sprechen und sich nicht in Schrift zu verlieren. Die einzelnen Tagesübungen dienen dem Zweck, durch Verschriftlichung sich der Sprache zu entziehen.

Rosa Pock geht hartnäckig und gutmütig mit ihrer Ich-Heldin um. Stets ist über das Augenzwinkern jener Umweg möglich, der es ermöglicht, Unüberwindbares zu umgehen. So sind wahrscheinlich die besten Sätze jene, denen man rechtzeitig aus dem Weg gegangen ist.

Rosa Pock, Ein Jahr im Leben einer Infantin
Klagenfurt: Ritter Verlag 2023, 128 Seiten, 19,00 €, ISBN 978-3-85415-652-9

 

Weiterführende Links:
Ritter Verlag: Rosa Pock, Ein Jahr im Leben einer Infantin
Wikipedia: Rosa Pock

 

Helmuth Schönauer, 03-07-2023

Bibliographie

AutorIn

Rosa Pock

Buchtitel

Ein Jahr im Leben einer Infantin

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2023

Verlag

Ritter Verlag

Seitenzahl

128

Preis in EUR

19,00

ISBN

978-3-85415-652-9

Kurzbiographie AutorIn

Rosa Pock, geb. 1949 in Wagna, lebt in Wien. Ehe- und Sprachgemeinschaft mit H. C. Artmann.