Rainer Mausfeld, Hybris und Nemesis
„Vor unendlich langer Zeit, in längst vergangenen Zeiten, die später als die goldene empfunden wurde, lebten die Menschen in Eintracht und Zufriedenheit. Vereinzelung oder gar ein Mehrhabenwollen auf Kosten anderer waren ihnen fremd. Als jedoch einige wenige anfingen, sich Vorteile auf Kosten der Gemeinschaft zu verschaffen, nahm die Geschichte ihren Lauf.“ (S. 10)
In den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Macht und Gewalt setzt Rainer Mausfeld die Einsicht, dass Macht und Gewalt, wenn sie sich selbst überlassen bleiben, in einer Gesellschaft eine zerstörerische Macht entfalten können. Schon früh haben Gemeinschaften und Gesellschaften versucht, diese von Einzelnen ausgehende rohe Gewalt durch geeignete Schutzinstrumente zu bändigen, was zur großen Leitidee der Demokratie geworden ist.
In einer Einführung und einem Überblick über das Thema geht Mausfeld zunächst dem anthropologischen Verhältnis zwischen Macht und Mensch nach, wobei eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse als kaum denkbar betrachtet wird. Macht als moralisch gut oder schlecht zu kategorisieren würde somit wenig Sinn ergeben, vielmehr müsse sich die Frage gestellt werden, wie sich Machtgier, die sich selbst über andere stellen will, rechtlich und zivilisatorisch einhegen lässt.
Mit der Befreiung des Menschen von Instinktbindungen und Reizgebundenheit wurden nicht nur die kulturelle Entwicklung eröffnet, sondern auch die destruktiven Potentiale des Menschen entfesselt, für die es keine biologischen Prozesse mehr gibt, die automatisch und auf natürliche Weise Aggression und Gewalt begrenzen. Die jeweiligen Kulturen mussten im Verlauf der Geschichte somit vielfältige zivilisatorische Instrumente erfinden und entwickeln, um die destruktiven Potentiale des Menschen zu kontrollieren.
Im 2. Kapitel „Der lange Weg zur zivilisatorischen Leitidee der Demokratie“ zeigt die unterschiedlichen Probleme und Versuche früher Hochkulturen und Gesellschaften, um parasitäre Eliten in ihre Schranken zu weisen. Beginnend bei den frühesten Jäger- und Sammlergesellschaften, über den ersten Einschnitt durch die Gründung von Städten und Staaten mit beginnender Arbeitsteilung und ersten Hierarchien in frühesten Megasiedlungen, Stadtstaaten in Mesopotamien, sowie Staaten in Ägypten und China wird aufgezeigt, wie sich Gesellschaften versucht haben gegen ihre Eliten zur Wehr zu setzen und umgekehrt Eliten ihre übergeordnete Machtstellung zu begründen versucht haben.
Als zentralen Höhepunkt dieser Entwicklung wird die Entstehung der Demokratie im antiken Athen vorgestellt, die aus gesellschaftlich nicht mehr tragbaren Aggressionen einer parasitären Elite ihren Anfang nahm. Beginnend mit den Reformen des Solon und Kleisthenes kommt es zur Ausbildung einer institutionalisierten Gegenmacht des Volkes, durch die sukzessive elitäre Machtstrukturen aufgebrochen werden konnten und die Gemeinschaft betreffenden Entscheidungen direkt von der Gemeinschaft selbst, also von allen Staatsbürgern, zu beschließen.
Ein wesentliches Kennzeichen der athenischen Konzeption von Demokratie war es, dass sie eine Ordnung darstellte „in der Bürger nicht nur Rechte haben, sondern sie auch wirklich ausüben“ (S. 194). Ziel der athenischen Demokratie war es somit, alle Bürger an den gemeinsamen politischen Angelegenheiten zu beteiligen, ihnen die Teilhabe an den politischen Entscheidungen auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu ermöglichen und damit den übergeordneten Einfluss parasitärer Eliten zu unterbinden.
In späterer Zeit wird das athenische Demokratieexperiment meist abwertend als radikale Demokratie bezeichnet und die Gefahren der Regierung durch das ungebildete, einfache Volk in den Vordergrund gehoben, wie es speziell in der Erfindung der „repräsentativen Demokratie“ der Fall war. Die USA, als erste Demokratie der Moderne und Vorbild für demokratische Entwicklungen der Gegenwart, haben in ihrer Verfassung die „Elitendemokratie“ eingeführt, die mit der ursprünglichen Idee der Entscheidungsgewalt des Volkes nichts mehr gemein hat. Hier steht die Übertragung der Macht des Volkes auf ausgewählte Vertreter im Mittelpunkt. Diese treffen die Entscheidungen, während das Volk passiv bleibt.
In weitere Folge beschreibt Mausfeld, wie der Demokratiebegriff von den mächtigen Eliten zunehmend missbraucht wird, um die eigenen Interessen mit geringstem öffentlichen Widerstand durchzusetzen. Dabei wird aufgezeigt, wie mit Hilfe soziologischer und psychologischer Erkenntnisse und dem Zusammenspiel mit Medien eine gezielte Kontrolle der öffentlichen Meinung auf subtile Weise gelingen konnte. Mausfeld zeigt aber auch auf, welche Möglichkeiten sich unseren modernen Gesellschaften bieten, um die Umklammerung der Eliten aufzubrechen und wieder mehr Demokratie im ursprünglichen Sinne zu ermöglichen.
Rainer Mausfeld geht in seiner Darstellung mit viel Akribie der Frage nach der Macht und dem Kampf um die Machtverteilung in der Geschichte der Menschheit während der letzten 5.000 Jahre nach. Dabei versucht er die diffizilen Verschleierungsversuche in der Gegenwart gezielt aufzudecken, mit denen unter dem Mantel der „Demokratie“ elitäre Machtstrukturen gefestigt und ausgebaut werden konnten. Ein überaus wichtiges und aufklärendes Buch, in denen zentrale Fragen zur Demokratie und Mitbestimmung des Volkes, von dem nur mehr in Sonntagsreden die Macht ausgeht, in einem neuen Licht betrachtet werden.
Rainer Mausfeld, Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt - Einsichten aus 5000 Jahren
Frankfurt a. Main: Westend Verlag 2023, 512 Seiten, 37,95 €, ISBN 978-3-86489-407-7
Weiterführende Links:
Westend Verlag: Rainer Mausfeld, Hybris und Nemesis
Wikipedia: Rainer Mausfeld
Andreas Markt-Huter, 04-03-2024