Christine Vescoli, Mutternichts
Mutterliebe, Mutterschutz, Mutterwitz – mit allem ist in der Literatur zu rechnen. Aber Mutternichts? Ein irritierender Titel wie alles, bei dem das Nichts die Hauptrolle spielt. Christine Vescoli versucht sich an einem erzählerischen Kunststück, sie lässt eine Ich-Erzählerin über die Mutter reflektieren. Und obwohl es in der Erinnerungsliteratur hunderte von Schablonen für Mutter-Gedenken gibt, steht sie vor dem Nichts. „Mutter zieht sich ins Nichts zurück.“ (7)
Die Ausgangslage ist entsprechend fatal. Sobald die Erzählerin mit dem Begriff Mutter konfrontiert wird, ist keine Person mehr dahinter sichtbar, visiert sie aber die Person an, ist der Mutterbegriff weg. Diese wechselseitige Ausblendung von Sichtweisen kumuliert zu einem beinahe haptischen Nichts. „Das Nichts war zeitlebens im Rücken der Mutter, war allumfassend und doch nie greifbar.“
So dauert es eine Weile, bis dann unter Zuhilfenahme von einzigartigen Zugängen so etwas wie ein Steinbruch der Erinnerung auftaucht, schließlich liegen „Brocken und Brüche von Erzählungen“ herum. (53)
Zuerst sind es kleine Aufblendungen, die scheinbar nichts erzählen, aber hinter dem Nichts dann Schimmer einer Geschichte zulassen. Am Grab stehend empfindet die Erzählerin nichts, aber „ich habe sie in meinem Kopf“ (9). An anderer Stelle sitzen Mutter und Tochter im Garten einer Anlage, völlig emotionslos drücken sie den Senf aus der Tube, damit sie den Imbiss lustlos hinter sich bringen. „Sie hat mir ihr Nichts hinterlassen.“ (11)
Als diese Einsprengsel von Geschehnissen zu nichts führen, versucht die Erzählerin zu erzählen wie ein Bericht. Die losen Ereignisse werden zwanghaft zu einer Geschichte gestreamt, das Motiv von Sigmund Freud lässt sich geschickt verweben, als die Tochter dort in seiner Gasse wohnt. In Telefonaten mit der Mutter ist vor allem die lange Schnur bemerkenswert, letztlich ist es sie, die eine Geschichte ergibt, während der Gesprächsinhalt im Apparat verschwindet wie das Schnurren einer Katze.
Über den Vater lässt sich keine formidable Muttergeschichte kreieren. Erinnerlich ist der schwere Dialekt des Vaters, und wie sich das Kind schämt, als es in seinem Tal zu Besuch sein muss. Auch Mutter dürfte sich geschämt haben, denn später verbarrikadiert sie sich in der Küche, wenn Vater bei seinen Geschäftstelefonaten laut durch die Wohnung schreit.
Abermals setzt die Mutter-Erforschung neu an, wie immer nimmt die Suchende einen Anlauf vom Tod aus. Bald nach dem Begräbnis reist sie in die vorgebliche Kindheit zurück auf den sogenannten Pichlerhof. Auf diesem macht sie wie heute üblich jede Menge Handy-Fotos. Zentrales Motiv dabei ist ein gewisser Peterle, der als alter Mann über dem Kachelofen liegt, aufgespannt wie ein Wärmesuchendes Tier.
Das Feld draußen ist frei, und wartet darauf, dass Figuren aus der Geschichte darauf ausgestreut werden.
„Jeder ist einer, der etwas getan haben wird, wenn etwas geschieht, von dem er noch nichts weiß.“ (42)
Die Option ist so eine Aufhellung der Vergangenheit, als alle unterwegs sind, aber Mutter sich schon nicht mehr zugehörig fühlt. Offensichtlich ist sie während der Option aus dem Familienverband gefallen. Später findet sich eine Notiz über ein Sibirisches Volk, das unter Stalin leidet, und jemand fragt, warum sie nicht einfach abhauen, wenn es so schlimm ist. Die dabei zitierten „Tschuktschen“ klingen ein wenig wie ein verballhorntes Volk in den Alpen.
Die große Lawine ist ein weiterer Höhepunkt im Vergangenheits-Tal, plötzlich gehört sie allen, ob arm oder reich, ohne sprachliche Unterscheidung der sprachlichen Zugehörigkeit.
Mutter hat in Bruchstücken erzählt. Dabei hat sie eine einmalige Ordnung im Auge, indem sie alles zerlegt, und zu einem neuen Bild zusammenbastelt. Aber oft kommt etwas dazwischen, und der Schritt des Zusammenfügens muss ausbleiben.
Die Erzählerin setzt ihre eigene Geschichte neu zusammen, indem sie zu Anlässen der Weltgeschichte ihre eigene hinzufügt. Bei diesem amerikanischen Präsidenten habe ich gestillt, bei dieser Katastrophe war ich in dieser Stadt, bei diesem Umsturz habe ich mich mit dieser Arbeit aufgehalten. Alles lässt sich nach dieser Methode zu einer Geschichte zusammenfügen, aber das Nichts geht nicht weg.
Wortfetzen aus dem Erinnerungsnebel: „Kinder weggeben.“ (144) Im ganzen Tal werden ununterbrochen Kinder weggegeben.
In der letzten Phase vor ihrem Streben hat sich Mutter für Sterbebegleitung interessiert. Tapfer hat sie ihre Dienste absolviert.
Und ein letztes Mal setzt es ein mit dem Tod. Mutter stirbt an einem Maiabend. Ein Kafka-Zitat gibt vielleicht Auskunft, wie sich das Mutternichts erzählen ließe.
„Alles was möglich ist, geschieht ja; möglich ist nur das, was geschieht.“ (165)
Der Roman endet mit dem Knall der Schritte auf dem nächtlichen Asphalt, als die Erzählerin wieder einmal aus dem Nichts hinaus flieht in die nächtliche Stadt.
Christine Vescoli räumt auf mit antrainierten Gefühlen und verkitschten Mutter-Plots. Es gibt nämlich Geschichten, die passen nicht in vorgefasste Formen.
Nach Ivo Bischoff und seinem „Besitztums-Effekt“ könnte man formulieren: „Hast du keine Mutter, weil du keine Erzählung dafür hast, oder hast du nichts, weil du eine Muttererzählung hast?“ [Original: „Hast du deine Freundin, weil du sie liebst, oder liebst du sie, weil du sie hast?“]
Christine Vescoli, Mutternichts. Roman
Salzburg: Otto Müller Verlag 2024, 168 Seiten, 24,00 €, ISBN 978-3-7013-1314-3
Weiterführender Link:
Otto Müller Verlag: Christine Vescoli, Mutternichts
Helmuth Schönauer, 02-03-2024