David Honigmann, Ein Ort, an dem seit Tagen kein Wunder geschah

Buch-CoverFahndungsfotos sind dann am wirkungsvollsten, wenn darauf nur die gröbsten Details scharf zu sehen sind und alles andere dem Fahnder überlassen bleibt.

Etwas Ähnliches ist David Honigmann mit seinem Porträt der Alpenstadt „Stöck“ gelungen. Zwar ist scheinbar nichts polizeischarf erzählt, dennoch aber ergibt der Roman hinter der Netzhaut des Lesers ein dichtes Porträt der Stadt Innsbruck, die mit all den kauzigen und wahnsinnigen Bewohnern mit klaustrophoben Tiefgang perfekt beschrieben wird.

Einen Sprachlehrer verschlägt es nach Stöck, wo er irgendwie gegen den Lernwillen seiner Kundschaft unterrichten soll. Während er sich noch mit der Hormonlage diverser Lehrerinnen und Kulturtanten herumschlägt, wird er zusehends bedroht. Er soll eine Schweinerei aus der Nazizeit untersuchen und die Kontonummer zu einem verschollenen Konto herausfinden.

Ein idealer Platz für nicht ganz saubere Erinnerungen ist ein Archiv im zehnten Stock, das in seinen schweren Panzerregalen so manche Ungereimtheit aus vergangenen Tagen aufbewahrt.

Die Tage in der Provinz sind gekennzeichnet durch eine Zeitdrift, die jede Chronologie aus dem Lot wirft. Provinz erkennt man daran, dass darin die Zeit völlig gestaucht und gedehnt abläuft. In Stöck ticken daher die Bewohner völlig anders als sonst wo, rennen stets in die Berge, wenn es etwas zu entscheiden gäbe und verflüchtigen sich in kulturelle Kleinereignisse, die in einer permanenten Fleisch- und Kostümbeschau der Anwesenden endet. Die Stadt wird sinnigerweise „Metzgerstadt“ genannt, offensichtlich weil in ihr eine Metzgerin eine bedeutende politische Rolle spielt und Kultur wie ein Stück Fleisch behandelt wird.

Als der Erzähler die Kontonummer dechiffriert hat, indem er nicht in den Briefen sondern an den Umschlägen fündig geworden ist, kommt es zum „Quetsch-Down“ im Archiv im zehnten Stock. Irgendwelche Agenten zerquetschen einen im Archiv um Rat Suchenden zwischen den schweren Drehregalen und werfen den Erzähler aus dem Fenster. Glücklicherweise hat das Archiv im zehnten Stock ein Auffanggitter für offensichtlich Betrunkene oder Selbstmörder montiert, so dass auch der Erzähler seinen eigenen Krimi überlebt.

In einem Nachspann berichtet eine Frau, dass sie den Fall säuberlich in Hefte notiert in einem Cafe vorgefunden und jetzt publiziert habe.

David Honigmanns Abrechnung mit einem Provinzkaff ist ein süffisant spannendes Leseerlebnis, zumal der Autor immer mit einem zu großen Erzählbohrer seine Löcher für minimale Erzählnägel bohrt. So werden die geistig ziemlich schlichten Provinztypen mit dem Charme eines psychologisch genauen Feingeistes erzählt. Da das Original vermutlich auf Französisch gedacht oder geschrieben ist, ergeben sich in der Übersetzung oder Umschichtung des Textes jene Zeitverschiebungen, die sich zwischen Zeitebenen im Französischen und im Deutschen immer wieder auftun. Die Folge ist ein impressionistisch psychologischer Thriller, der manchmal wie ein großes Gedicht an die Innenwände des Erzählers schwappt. Abrechnungen können manchmal fein und elegant sein!

David Honigmann ( = Jean-Louis Poitevin): Ein Ort, an dem seit Tagen kein Wunder geschah. Klaustrophober Thriller.
Mainz: Verlag Donata Kinzelbach 2003. 139 Seiten. EUR 19,-. ISBN 3-927069-68-X.

 

Helmuth Schönauer, 20-01-2006

Bibliographie

AutorIn

David Honigmann

Buchtitel

Ein Ort, an dem seit Tagen kein Wunder geschah

Erscheinungsort

Mainz

Erscheinungsjahr

2003

Verlag

Verlag Donata Kinzelbach

Seitenzahl

139

Preis in EUR

EUR 19,-

ISBN

3-927069-68-X

Kurzbiographie AutorIn

David Honigmann ( = Jean-Louis Poitevin), geb. 1955, ist Literaturwissenschaftler und Essayist. Lange Zeit als Leiter des Französischen Kulturinstitutes in Innsbruck tätig, lebt er heute in Paris. Forschungsarbeiten vor allem zu Robert Musil und Julien Gracq.