Vincenzo Consolo, Retablo

Buch-CoverZwischen Italien und Österreich gibt es literarisch gesehen einen Riß, in dem die Südtiroler sitzen. Beide Literaturen lassen einander vermutlich deshalb in Ruhe, weil jede von der anderen annimmt, dass die Südtiroler den Kontakt herstellen werden.

Am Beispiel von Vicenzo Consolo zeigt sich für den deutsch-monolingualen Leser, was sich in Italien für Sprachschätze auftun. Der Folio-Verlag versucht mit seiner Serie Transfer, die eine oder andere Kostbarkeit zugänglich zu machen. Den Roman „Retablo“ erschließt dabei mit großer Übersetzergeduld die Südtiroler Autorin Maria E. Brunner, die auch ein Nachwort über Stoff, Sprachschatz und politischen Kontext des Romans verfasst hat.

Schon der Begriff Retablo läßt sich kaum ins Deutsche übersetzen. Der sakral-technische Leihausdruck Retabel bezeichnet in Fachkreisen einen Altaraufbau, bei dem es viel zu schauen gibt, und der wie ein Spiegel der höheren Art Dinge dieser Welt wieder auf das staunende Betrachtervolk zurückwirft, freilich mit einer leicht irrealen jenseitigen Verbrämung.

Retablo ist zum ersten ein Thema. Ein Mönch hat Betgelder unterschlagen, ist einer Frau aufgesessen und deshalb auf der Flucht, der Maler Clerici hingegen ist auf der Kulturflucht vor den Machenschaften Mailands und sucht ideal-originale Schauplätze in Sizilien. Dieses Thema wird den beteiligten Figuren immer wieder vor die Nase gehalten, teilweise als Empfindung, als Brauch, aber auch als Tagebuch der Suche und generellen Diskussion über Ästhetik.

Zum anderen ist Retablo eine Erzählweise. Im satten Mittelteil berichtet der Maler von seiner Suche nach der Metaebene der Kunst, dabei fließen aufgeschriebene und frisch erlebte Sätze wie beim Palimpsest ineinander über, im dünnen Vorderteil berichtet der Mönch von seiner Liebe und der allgemeinen Hormonstörung, wenn diese Liebe konkret wird, im Schlußteil schüttelt sich die Angebetete quasi von den lästigen Begleiterscheinungen frei, welche die Männer bei ihrem Schwärmen mit sich bringen.

Drittens ist Retablo eine Schautafel über die Zeiten. Der Autor Vicenzo Consolo schickt seine Figuren ins 18. Jahrhundert, im sprachlichen Aufeinanderprallen der urbanen Gelehrtensprache Mailands mit der idyllisierenden Renaissance-Sprache Siziliens entstehen jene Funken, mit denen die Zeitgeschichte gezündet und zur Verpuffung gebracht wird. Der Kontrast zwischen städtischer Diskussion und ländlicher Schäfermeditation zieht sich durch alle Jahrhunderte und hat offensichtlich im hitzigen Klima der 1970er Jahre einen intellektuellen Höhepunkt erfahren.

Für jemanden, der die Dialekte und Zeitverschrobenheiten der italienischen Sprache nicht zu entdecken vermag, hat die Übersetzerin einige markante Sprachgriffe nachgestellt. Da wird die Natur zu einem Schäfergedicht, das kurz vor der „überschäfernden“ Explosion semantisch zurückgefahren wird, das religiöse Pathos wird mit viel Gesichtscreme aufgetragen, aber dann doch wieder abgetupft, und die ohnehin in keine Spurweite passende Sprache der Liebe kriegt je nach Landstrich ihren sprachlich ausreichend breiten Unterbau, so daß der Leser ab und zu beiseite treten kann, um einen hormonellen Windschub vorüber rauschen zu lassen.

Lesen kann nicht nur ein Vergnügen sein sondern auch ein lang andauerndes Spiel mit Zeiten und Kulturen sein. Retablo ist ein vielschichtiger Text, der den Leser auf allen Ebenen herausfordert, ohne ihn deshalb über die Brüstung der jeweiligen Etage zu stoßen.

Vincenzo Consolo, Retablo. Roman. A.d. Ital. von Maria E. Brunner.
Wien, Bozen: folio 2005, 158 Seiten, EUR 19,50, ISBN 978-3-85256-314-5

 

Weiterführende Links:
Folio-Verlag: Vincenzo Consolo, Retablo
Wikipedia: Vincenzo Consolo

 

Helmuth Schönauer, 08-02-2006

Bibliographie

AutorIn

Vincenzo Consolo

Buchtitel

Retablo

Originaltitel

Retablo

Erscheinungsort

Bozen

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

folio

Übersetzung

Maria E. Brunner

Seitenzahl

158

Preis in EUR

19,50

ISBN

978-3-85256-314-5

Kurzbiographie AutorIn

Vicenzo Consolo, geb. 1933 in Sizilien, lebt in Mailand und Sizilien.