Richard Wall, Rom

Buch-CoverGanz Rom ist ein Palimpsest, Geschichten, Gebäude, Kulturen und Wetterlagen sind dermaßen in einander verschachtelt, dass man nie die einzelnen Schichten als Ganzes los lösen kann. Wie wenn man ein Stück Wurzel aus der Erde zieht, ist immer noch etwas von früher und von woanders dran.

In der Kultur- und Literaturtheorie ist ein Palimpsest ein Text, in welchen aus pragmatischen Gründen ein anderer hineingeschrieben worden ist. Das berühmteste Palimpsest der Literaturgeschichte gibt es bei Thomas Pynchon, wo Agenten unter dem Schnauzer die geheime Botschaft eingeschrieben haben, sichtbar nur für jenen, der die richtige Rasur kennt.

Richard Wall nimmt auf der obersten Textfläche einen Kulturaufenthalt in Rom zum Anlass, um darunter eine Geschichte der Subversion, der Bildhauerei und Malerei, und überhaupt einen Abriss über das so genante Abendland zu installieren. Wie bei einem echten Palimpsest schält er zuerst die bisherige Sehweise ab, ehe er durch Aufhellen und Ausbleichen der vorgefassten Meinungen einen neuen Text initiiert.

Der Aufenthalt des Forschers, Erzählers und Alltagsmitglieds läuft aufregend, hitzig, lärmend und in dichten Schüben ab. Der Ich-Erzähler nützt mit weit aufgerissenen Sinnesorganen jede Sekunde seines Romaufenthaltes. Während er die Kunst- und Kultstätten der Stadt nach einem flächendeckenden Beobachtungsplan abscannt, wachsen sich seine Notizen oft in Echtzeit zu Erlebnisinseln aus. So kann das Nachbild einer klassischen Schönheit auf einem Gemälde als pure Gegenwartserotik nachvibrieren, wenn etwa eine Frau mit der lasziven Bewegung des Alltags eine Vespa besteigt.

Wallfahrtsort für die Unterdrückten und Geschlagenen der Stadt wird ein Zettel-Denkmal des Dichters Pasquinotto. Was in London vielleicht mündlich Speakers Corner ist, ist in Rom jene mit Zetteln voll gepickte Inschriftenstele, auf der die vom Leben Gequälten ihre Texte kleben, Pasquinaden genannt. Manches geht auf den Untergrunddichter persönlich zurück, andere Teile werden als zitierte Anfügung, anonyme Ergänzung oder ausgestülpte Lebenspartikel eines Passanten in die vorhandenen Texte „palimpsiert“.

Nach den täglichen Erkundungstouren in den Untergrund und Hintergrund der Stadt, wendet sich der Erzähler wieder den großen Handbewegungen der Kultur zu. Geduckt in absprungbereiter Aufsatzhaltung schnellen aus Alltagseindrücken immer wieder Kommentare zur Malerei, zu genialen Plastiken und zu den Giganten der Renaissance in die Höhe. Dabei werden die Kunsttheorien forsch überprüft, wie sie sich unter den Sehbedingungen der Gegenwart bewähren.

Fotomaterial unterstützt diese Kommentare, der fotografierende Autor wählt dabei immer Perspektiven, welche den aktuellen Zustand der Stadt während des Blickes auf das Kunstwerk mitdokumentieren.

Richard Walls Rom-Buch ist ein Unikat, das steil aus den Tausenden Rom-Büchern hervorragt. Erlebnisbericht, Essay, Dokumentation und Überlebensknigge laufen in einen „Rom-an“ über. Als vollkommenes Palimpsest ist der Text dabei nie fertig und wird zusammen mit dem Leser täglich neu fort geschrieben.

Richard Wall, Rom. Ein Palimpsest. Roman.
Klagenfurt: Kitab 2006. 304 Seiten. EUR 17,50. ISBN 978-3-902005-82-3

 

Weiterführende Links:
Kitab-Verlag: Richard Wall, Rom. Ein Palimpsest
Wikipedia: Richard Wall

 

Helmuth Schönauer, 08-02-2007

Bibliographie

AutorIn

Richard Wall

Buchtitel

Rom. Ein Palimpsest

Erscheinungsort

Klagenfurt

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

Kitab

Seitenzahl

304

Preis in EUR

17,50

ISBN

978-3-902005-82-3

Kurzbiographie AutorIn

Richard Wall, geb. 1953 in Engerwitzdorf, lebt Katsdorf.