Hanno Millesi, Wände aus Papier

Buch-CoverVielleicht sind Kinder in Wirklichkeit Erlebnismonster und erleben sich, die Eltern und die fröhliche Kindheit als gigantisches Experiment skurriler Gegebenheiten.

Hanno Millesi geht in seinen zehn Erzählungen immer von der Überlegung aus, dass Kinder alles ganz anders erleben, als wir es wahr haben wollen. Ein überdimensioniertes Erlebnis-Kind findet sich in alltäglichen Situationen wieder, aber die Welt tickt ganz anders.

Bereits in der fulminanten Eintrittsgeschichte vom Werktag umlauern einander Eltern und Kind mit ihren Gastspielen in den eigenen vier Wänden. Das Kind schwänzt schon seit längerer Zeit die Schule und schaut im Park verschwundenen Vögeln zu. Gleichzeitig hat der Vater offensichtlich die Arbeit verloren und geht mit seiner Brotzeugtasche artig außer Haus, am Abend erzählen sich alle die Geschichten vom Werktag, die sie sich zur Tarnung ausgedacht haben. Vermutlich ist auch die Mutter in dieses Erfindungsdickicht eingebunden, der Bub traut Erwachsenen jedenfalls alles zu.

In der Sequenz ‚Experiment’ entdeckt das Kind, dass es in Wirklichkeit Teil einer Versuchsanordnung ist, die Eltern wollen nur testen, wie das Kind auf verschiedene Sachen reagiert. Beispielsweise wird es nur zu Testzwecken einkaufen geschickt, die Waren auf dem Einkaufszettel und jene im Warenkorb müssen nicht übereinstimmen, die Differenz deutet vielleicht sogar auf Intelligenz hin. Erst als die Eltern Bücher vorlegen und die Geschichten pädagogisch hinterhältig abzufragen beginnen, wird dem Kind klar, dass es bei diesem Experiment auf der Hut sein muss.

In der Titelgebenden Geschichte ‚Wände aus Papier’ hört man alles in der Wohnung. Die dünnen Wände haben aber einen pädagogischen Sinn: Die Erziehungsberechtigten können jederzeit durch sie hindurch springen. Aber umgekehrt hört auch das Kind alles, was die Eltern nebenan treiben. Die Geräusche deuten auf schweren Geschlechtsverkehr, Schändung oder Gewalt in der Familie hin. Als am Morgen die Eltern mit verschwollenen Gesichtern aufwachen, dienen diese als Mahnung, wenn man nicht ruhig ist, kriegt man solche Gesichter.

Das entstellte Gesicht spielt auch die Hauptrolle in der wunderbaren Begebenheit: ‚Oft sitze ich stundenlang vor dem Spiegel und denke über mein Aussehen nach’. Das Kind entdeckt nämlich, dass es bald wie seine Erzeuger aussehen wird und greift zu Notmaßnahmen. Mal schneidet es sich ein Ohr ab, dann werden die Augenlider aufgeputzt, die Lippen verändert und alles an einem Tag erledigt, wofür ein Gesichtschirurg vielleicht Monate brauchen würde. So richtig entstellt ist wenigstens das Recht auf ein individuelles Aussehen gewahrt.

Aber nicht nur die Erwachsenen drehen durch, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, in einem Kaufhaus rennt ein sexuell verstörtes Kind herum und greift dem Erzähler ständig an das Genital. Gerade weil Kinder so harmlos sind, wirken sie umso fürchterlicher, wenn sie die Harmlosigkeit ablegen. Das erzählende Fluchtkind hat jedenfalls ganz schön zu tun, seine Genitalien heil durch das Kaufhaus zu bringen.

Hanno Millesis Geschichten sind eine Orgie von pädagogischer Richtigstellung. Erst durch seine umgedrehte Werteskala entdeckt man als Leser, wie absurd daneben eigentlich die schönen Geschichten von der netten Kindheit üblicherweise sind. Die Kindheit ist in Wirklichkeit ein grausiger Wettlauf mit der Wahrheit und man ist froh, wenn man sie irgendwie hinter sich gebracht hat.

Hanno Millesi, Wände aus Papier.
Wien: Luftschacht 2006. 148 Seiten. EUR 16,90. ISBN 978-3-902373-19-9.

 

Weiterführende Links:
Luftschacht: Hanno Millesi, Wände aus Papier
Wikipedia: Hanno Millesi

 

Helmuth Schönauer, 25-03-2007

Bibliographie

AutorIn

Hanno Millesi

Buchtitel

Wände aus Papier

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2006

Verlag

Luftschacht

Seitenzahl

148

Preis in EUR

16,90

ISBN

978-3-902373-19-9

Kurzbiographie AutorIn

Hanno Millesi, geb. 1966 in Wien, lebt in Wien.