Peter Pessl, Der Brief mit der Aufschrift

Buch-CoverFehlende Dinge deuten oft auf etwas Kriminelles hin. So kann eine unvollständige Anschrift letztlich genau so zu einem Täter führen wie die Bezeichnung Kriminal, von der offensichtlich ein Teil fehlt. Ist es ein Kriminalroman, ein Kriminalbeamter, eine Kriminalgroteske?

Peter Pessl lässt in seinem Kriminal-Buch so gut wie alles offen. Die Sätze werden nur angedeutet, Szenen erscheinen im Halbschatten, der zweite Teil eines Dialogs fehlt fast immer, ständig werden Situationen aufgerissen und offen gelassen.

ich schoss wieder, diesmal genauer, nach Plan, das dürfen Sie gerne wissen! (31)

Ziemlich losgelöst von jedem Zusammenhang, entwickelt sich dieser einzelne Satz zu einem ganzen Kriminalgefüge. Warum schießt jemand, wie schaut sein Plan aus, was darf ich wissen, das vielleicht völlig unbekannt ist?

Mit kleinen Andeutungen und Rätselaufgaben wird der Leser in seine eigene Neugierdenkammer geschickt. Auch wenn man vielleicht gar nicht recherchieren will, lassen einem die Sätze keine Ruhe. Man wird gegen seinen Willen zum Kommissar und ermittelt, denn es muss ja einen Sinn geben zwischen all diesen Gesprächsfetzen, Andeutungen und Spuren.

Ihr Kopf schlug aufs Steuer // sie klappte an den Knöcheln hintenüber, brach dabei an der bleistiftdünnen Mitte entzwei, aus der Blut floss // aber als eine Fälschung! aber als ein Körper-Fake! sie sagte: Halt mich fest, du Hund! (24)

Solche entscheidenden Stellen, an denen sich die Sprünge zwischen den Wahrnehmungen auf und zutun wie gesprächige Lippen, werden jeweils von Ilse Kilic mit Zeichnungen unterlegt. Tatsächlich bricht die Figur an der bleistiftdünnen Mitte entzwei, während Vorder- und Hinterteil getrennt auf ihre neuen Aufgaben zusteuern.

Der Beginn des ganzen Kriminals ist romantisch, „gothic“ und gruselig angelegt. Ein Brief wird in der Nacht im Hotel sichergestellt und es ist klar, dass es sich um einen besonderen Brief handelt, denn er durchschlägt jede Briefform.

Peter Pessls „Kriminal“ ist ein toller Krimi, der von den Erwartungen, Fiktionen und persönlichen Entwürfen zum Thema Spannung handelt. Als Leser wird man auf jeder Seite mehrmals angetörnt und in eine neue Wildnis der Phantasie geschickt. Alles, was man bislang gelesen hat, muss man einsetzen, um zwischen den jeweiligen Fundamenten des Plots einen Übergang zu finden, und schließlich endet die Geschichte mit einem überdimensionalen Happy-End. „Blühende Körper? – Es sollten vier schöne Stücke eines blühenden Körpers sein.“ – Aber vielleicht steckt gerade in diesem schönen Ende schon wieder die nächste zerstückelte Ungeheuerlichkeit.

Peter Pessl, „Der Brief mit der Aufschrift“. Ein Kriminal. Mit 14 Zeichnungen von Ilse Kilic.
Wien: Das Fröhliche Wohnzimmer 2005, 37 Seiten, EUR 7,10, ISBN 978-3-900956-79-0.

 

Weiterführende Links:
Das fröhliche Wohnzimmer: Peter Pessl, Der Brief mit der Aufschrift
Wikipedia: Peter Pessl

 

Helmuth Schönauer, 16-01-2007

Bibliographie

AutorIn

Peter Pessl

Buchtitel

Der Brief mit der Aufschrift

Erscheinungsort

Wien

Erscheinungsjahr

2005

Verlag

Das Fröhliche Wohnzimmer

Illustration

Ilse Kilic

Seitenzahl

37

Preis in EUR

7,10

ISBN

978-3-900956-79-0

Kurzbiographie AutorIn

Peter Pessl, geb. 1963 in Frankfurt, lebt in Wien. Ilse Kilic, geb. 1958 in Wien, lebt in Wien.