Anna Maria Leitgeb, Eisblau mit Windschlieren
Die große Geschichte eines Landes und die kleine Geschichte einer Persönlichkeit haben eines gemeinsam: Beide dauern letztlich gleich lang und die jeweiligen Höhe- und Tiefpunkte haben scheinbar nichts miteinander zu tun.
Anna Maria Leitgeb erzählt fließend und flott mit einem Wurf, wie man ihn oft zum Ausschütten von Würfeln aus dem Würfelbecher anwendet.
Das erzählende Ich entwickelt sich von einem Volksschulkind, an dem die Welt vorübergezogen wird wie eine Kulisse, zu einer selbstbewussten Frau, die mit diesen Kulissen zu spielen gelernt hat.
Schon die erste Sequenz erzählt in Stereo das Wesen der Geschichte. Das Kind sitzt auf der Matratze und beobachtet die eigenen Zehen. Da geht es plötzlich drunter und drüber, Uniformierte durchsuchen das Haus und es fallen Wörter wie Aluminium-Duce und in die Luft fliegen. Vater wird verhaftet und abgeführt, im Hof bleibt sein Hemd zurück.
Auf den Blickwinkel kommt es jeweils drauf an, und da liefert der Roman an allen Ecken und Enden überraschende Einblicke.
Eine Dolomitenfahrt wird für die Erzählerin "Biggi" zu einer Tortur, sie muss sich auf der Rückbank eines VW-Käfers sitzend die Schönheit des Landes erklären lassen und dabei heimlich kotzen, damit das neue Auto nicht voll wird. Auch die erste Sexualität ist eine Wucht.
Er: Darf ich einmal bei dir? - Ich: Was denn? - Er: Oben im Wald. Beim Bach. Wo wir Räuber und Gendarm spielenden. - Ich: Warum? - Er: Einfach so. Kommst du um drei?
Michel zog mir Rock und Schürze über die Augen, machte Eiweiß auf die Strumpfhose, ziemlich schnell ging das. (38)
Allmählich verändert sich das Land und Biggi wächst mit. Die Erzählerin geht ins Gastgewerbe und sucht sich selbstbewusst jene Männer für die Nacht heraus, die den Duft der weiten Welt an sich haben. Später geht sie selber fort und heiratet einen arabischen Architekten.
Der Roman endet am Sterbebett des Vaters, wo dieser in seinem Delirium immer noch von den falschen Walschen und den Halbnegern redet. Das Losungswort für ein heimliches Sparbuch heißt übrigens Edelweiß.
Anna Maria Leitgeb erzählt die einzelnen Sequenzen mit der jeweils neuen Kraft von Jahresringen, ständig verändert sich die historische Rinde, aber der Stamm wuchert ungebremst durch die Zeit. Und auch die durchaus ironische Position der Ich-Erzählerin tut sich nie einen Zwang an. Wenn die Situationen schrill und schroff sind, muss es auch die Sprache sein. Und so legt sich Eisblau mit Windschlieren auf alle Sinnesorgane, wie ein Sprachbalsam auf historisch raue Zeit.
Anna Maria Leitgeb, Eisblau mit Windschlieren. Roman.
Bozen : Edition Raetia 2010. ( = raetia club).147 Seiten. EUR 10,-. ISBN 978-88-7283-664-3
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Edition-Raetia: Anna Maria Leitgeb, Eisblau mit Windschlieren