Bessa Myftiu, An verschwundenen Orten

Buch-CoverManche Orte sind untrennbar mit der eigenen Kindheit verbunden. Verschwindet die Kindheit, verschwinden auch die maßgeblichen Orte dafür.

Bassa Myftiu geht in ihrem Roman verschwundenen Orten während der Zeit des albanischen Kommunismus nach. Dabei schickt sie eine Ich-Erzählerin durch die Erinnerungsfelder eines Stadtviertels in Tirana. So werden Szenen aus dem alten Regime kurz ausgeleuchtet, tauchen seltsam sperrig ins Bewusstsein und verschwinden dann wieder samt der evozierten Ausstattung.

Im Mittelpunkt steht das Haus, das Selbstmord macht. Dieses Haus ist der Sitz des Clans, der unter dem skurrilen Diktator Enver Hoxha in allen Spielarten verfolgt wird. Der Vater der Erzählerin muss eines Tages seinen Roman vernichten, weil er dem Vorsitzenden nicht gefällt, gleichzeitig ist auch seine Karriere als Schriftsteller vorbei, er muss sich als Verkäufer in einen Kiosk stellen. Die alten familiären Rituale um Brautschau und Verheiratung bröckeln ab und werden durch sozialistische Bildungsprogramme ersetzt. Das Haus sieht dem allen mit Geduld zu, aber es verfällt und macht als Gebäude und als geistiger Zusammenhalt der Familie Selbstmord.

Die Begebenheiten im Viertel wuchern manchmal ins Skurrile aus, wenn etwa eine Zwölfjährige und ein Zehnjähriger auf große Liebe machen und von Tuten und Blasen keine Ahnung haben, da lacht natürlich der ganze Straßenzug.

Das erzählende Mädchen wird allmählich erwachsen und arbeitet in einer Redaktion. Die Liebe wird der jungen Frau gleichsam ärztlich verschrieben. Da es im ganzen Land kaum Verhütungsmittel gibt, ergattert die junge Klientin für ein Wochenende die entsprechende Ausrüstung. Jetzt gilt es nur noch, mitten im Sozialismus einen passenden Mann und ein diskretes Ambiente zu finden. Mit ein wenig Protektion gelingt beides, aber der Mann ist so aufgeregt, dass seine erotischen Dienstleistungen mitten im Sozialismus versagen. Eine zweite Chance für die angewandte Liebe gibt es offensichtlich nicht, dafür aber den guten Ratschlag der weisen Großmutter:

Das nächste Mal, wenn du losziehst, um Liebe zu machen, klebe dir ein Pflaster über den Mund, meine Teuerste: Mit deinem Gerede vögelst du den Männern das Hirn und lähmst ihnen den Schwanz. (243)

Zusammen mit dem Regime verrutschen diese Geschichten aus der aktuellen Gegenwart, aber in klugen Erinnerungen tauchen diese verschwundenen Orte des Geschehens alle wieder auf. - Eine liebenswürdige Abrechnung mit dem albanischen Provinzkommunismus, der letztlich von der Kraft der Geschichten überholt und ironisch leicht bestattet wird.

Bessa Myftiu, An verschwundenen Orten. Roman. A. d. Franz. von Katja Meintel. [Orig.: Condessions des lieux disparus, 2007].
Zürich: Limmat 2010. 244 Seiten. EUR 22,80. ISBN 978-3-85791-597-0.

 

Helmuth Schönauer, 29-11-2010

Bibliographie

AutorIn

Bessa Myftiu

Buchtitel

An verschwundenen Orten

Erscheinungsort

Zürich

Erscheinungsjahr

2010

Verlag

Limmat

Seitenzahl

244

Preis in EUR

22,80

ISBN

978-3-85791-597-0

Kurzbiographie AutorIn

Bessa Myftiu, geb. in Tirana, lebt seit 1992 in Genf.