Alban Nikolai Herbst, Schöne Literatur muss grausam sein

Manchmal ist das Vorleben eines Schriftstellers entscheidend für dessen Schreib-Wucht in Theorie und Praxis.

Alban Nikolai Herbst hat fünf Jahre lang an der Frankfurter Börse als heftiger Broker gearbeitet und sich damit wohl einen Zugang zur fiktionalen Welt des Geldes und seiner Phantasie-Derivate verschafft. Aus dieser schier unfassbaren Welt dürfte auch das Konzept für „Thetis“, der sogenannten Anderswelt, stammen.

In dieser Trilogie tauchen mythologische Figuren scheinbar trivial im Berlin der Gegenwart auf und heben die Welt als Vorstellung und Wille aus den Angeln.

Alban Nikolai Herbst formuliert parallel zu seinen fiktionalen Texten immer auch eine handfeste Theorie. Am markantesten ist die Theorie vom „Flirren im Sprachraum“ (Schreibheft 2000). Flirren ist nach dieser Theorie ein „schweifendes Denken“, das sich nicht fassen, aber in seiner Ausuferung eingrenzen lässt.

Wie beim Rhizom, das sich wie ein Wurzelwerk über weite Flächen in einem Denk-Gelände verbreiten kann, flutschen auch beim Flirren die Gedanken immer wieder zur Seite, wenn man ihrer habhaft werden möchte. Das Ganze spielt sich in einer Matrix ab, dabei handelt es sich um ein System, aus dem es kein Entrinnen gibt, das aber dennoch so ziemlich jede Freiheit sich darin zu bewegen ermöglicht.

Die klassische, handfeste Literatur tut sich naturgemäß schwer.

Die realistische Literatur ist unrealistisch. Sie versucht ganzheitlich zu interpretieren, wo es nur Partikel gibt: digitale Punktverteilungen im Netz. (60)

Dem Leser kommt in diesem Flirren eine substantielle Bedeutung zu.

Im Modell des Fließens wird der Leser in den Text aufgenommen. (73)

Der Autor beschreibt mit diesem Modell auch die Aufgabe der Kunst, die im Ausbrechen aus dieser Matrix besteht. Diese Aufgabe ist freilich eine Sisyphus-Aktion, denn „die Matrix ist umfassend und kennt keine autarken Bereiche.“ (78)

Im titelgebenden Aufsatz „Schöne Literatur muss grausam sein“ (Leipzig 2002) stellt Alban Nikolai Herbst die seltsame Frage, ob sich aus einer Liebschaft, die bei Aldi an der Kassa entsteht, substantielle Literatur entwickeln kann. Er meint, das alleine sei sowohl für die Literatur als auch für die Liebschaft zu wenig.
Als Antwort auf diese „banale“ Existenzfrage stellt er drei Thesen vor:

Kriegerische Literatur ist antimoralisch. - Kriegerische Literatur hebt Alltagsgesetze aus den Angeln. -Kriegerische Literatur ist spontan.

Der Begriff kriegerisch meint hier die Auseinandersetzung um die elementarsten Teile des Lebens und Überlebens und hat mit der kriegerischen Abwicklung von Konflikten nur peripher zu tun.

Als Leser dieser Aufsätze wird man durch verschiedene Theorien und Anlässe geführt, es ist überraschend, was sich alles hinter der glatten Haut des allgemeinen Weltbildes auftut. Die Theorie zur Literatur ergänzt natürlich auch die Lektüre von Fast-Literatur und wirkt wie ein Ballaststoff zum oft sulzigen Aspik der Belletristik.

Alban Nikolai Herbst, Schöne Literatur muss grausam sein. Aufsätze und Reden I.
Berlin: Kulturmaschinen 2012. 285 Seiten. EUR 17,30. ISBN 978-3-940274-38-0.

 

Weiterführende Links:
Kulturmaschinen-Verlag: Alban Nikolai Herbst, Schöne Literatur muss grausam sein
Wikipedia: Alban Nikolai Hebst

 

Helmuth Schönauer, 25-06-2013

Bibliographie

AutorIn

Alban Nikolai Herbst

Buchtitel

Schöne Literatur muss grausam sein. Aufsätze und Reden I.

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2012

Verlag

Kulturmaschinen Verlag

Seitenzahl

285

Preis in EUR

17,30

ISBN

978-3-940274-38-0

Kurzbiographie AutorIn

Alban Nikolai Herbst, geb. 1955 in Bensberg, lebt in Berlin.