William T. Vollmann, Europe Central

Die postmoderne Erzählmethode wird umso genauer, je verrückter, entlegener und diffuser das erzählte Objekt ist. Die Methode besteht letztlich darin, ein diffuses Konvolut von Ereignissen und Ideen so zu drapieren, dass der Leser die einzelnen Teile zu seiner persönlichen Angelegenheit und das Ganze zu einem subjektiven Ereignis machen muss.

William T. Vollmann bereitet mit „Europa Central“ den Mythos eines Kontinents auf, aus dem viele Vorfahren der US-Amerikaner ausgewandert sind und den man im Jahrhundert zweimal aus US-Sicht befrieden muss. Wie tickt dieses Europa, dass davon ständig Weltkriege ausgehen und wie kann man es begreifen?

In der Hauptsache treten der Schlafwandler Hitler und der Stahlkörper Stalin in einen Wettbewerb an Ideen, der im Überbau als rhetorische Zangenbewegungen über Telefon und im Fundament als stählerne Bewegung von Truppenmassen ausgeführt wird. Das Telefon ist um diese Zeit so etwas wie das Internet heute, mit schnarrenden Stimmen haben die Diktatoren die jeweiligen Statements des anderen downgeloadet ohne darauf einzugehen.

In der Erzähl-Methode William T. Vollmanns wird fürs erste aus Original-Zitaten ein sogenannten Telefonsound aus Bakelit rekonstruiert. Wie in einer überdimensionierten Abhöranlage flitzen die einzelnen Floskeln und Partikel über den Kontinent und durch das Ohr des Lesers, aus diesem Originalsound muss er sich seine persönlichen Kriegserklärungen, Kriegsgründe und Zangenbewegungen zusammensetzen.

Untermauert ist dieser Top-Sound vom Schicksal federführender Begleitpersonen in Kultur und Politik. Die Lyrikerin Achmatowa, die Bildhauerin Kollwitz, der Komponist    Schostakowitsch und der Feldherr Paulus etwa erklären ihr Werk, das jeweils Widerstand und Ornament zugleich ist, indem sie ihre Kontroversen mit den Befehlen von Oben darlegen. Unter anderen Umständen wäre ihr Werk vielleicht zahm, friedlich oder unerkannt geblieben.

In diesem grau gefärbten Milieu entstehen die grundlegenden Konflikte unserer Zeit. Es ist ein ungeheurer Ameisenhaufen, in dem wir alle herumkriechen.
(Schostakowitsch)

Der Autor gewährt mit seinem „Europe Central“ einen Einblick in diesen Ameisenhaufen der Geschichte, indem er einzelne Gänge nacherzählt, Figuren in einen Dialog treten lässt, Zitate auslegt und dem Leser empfiehlt, diese neu zu ordnen. Der Leser wird ziemlich eingespannt bei diesem Mammutwerk, nicht nur wegen des Umfangs. Immerhin müssen auf jeder Seite Mythen, Berichte, Zitate und Leerstellen neu bewertet und in einem Zusammenhang mit der Text-Umgebung gebracht werden.

Diese Methode hat freilich gewisse Vorteile, der Leser lernt, Verantwortung für Behauptungen zu übernehmen, der Stoff bleibt in einer gallertigen Allround-Konsistenz und ist nicht in das Korsett eines historischen Romans gegossen. Die einzelnen Zitate stimmen aufs Wort und erfahren doch erst ihre wahre Bedeutung, wenn sie vom Leser in einer Erzählsequenz akzeptiert werden.

Selten noch ist die Geschichte Europas in und zwischen ihren Weltkriegen so „spielerisch zynisch“ dargestellt worden wie in diesem Roman. Und das „Spielerisch Zynische“ besteht darin, dass noch nichts vorbei ist, und die Geschichte in manchen Bereichen erst richtig los geht.

William T. Vollmann, Europe Central. Roman. A. d. Amerikan. von Robin Detje. [Orig.: Europe Central, New York 2005].
Berlin: Suhrkamp 2013, 1028 Seiten, 41,10 €, ISBN 978-3-518-42368-4

 

Weiterführende Links:
Suhrkamp Verlag: William T. Vollmann, Europe Central
Wikipedia: William T. Vollmann

 

Helmuth Schönauer, 15-05-2015

Bibliographie

AutorIn

William T. Vollmann

Buchtitel

Europe Central

Originaltitel

Europe Central

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2013

Verlag

Suhrkamp Verlag

Übersetzung

Robin Detje

Seitenzahl

1028

Preis in EUR

41,10

ISBN

978-3-518-42368-4

Kurzbiographie AutorIn

William T. Vollman, geb. 1959 in Los Angeles, lebt in Sacramento.