Gustav Ernst, Zur unmöglichen Aussicht

Die österreichische Kaffeehaus-Seele sucht vor allem eines: das Unglück. Und wenn es einem im gewöhnlichen Leben draußen nicht begegnet, muss man so lange ins Café, bis es sich tatsächlich zu einem an den Tisch hockt.

Gustav Ernst stellt mit seinem grotesken Depressionsroman seine Leser vor eine „unmögliche Aussicht“: man wird Zeuge einer geradezu weltbewegenden Untergangsstimmung.

Der Ich-Erzähler wird eines Tages im Café von einem Gast, der sich als Kagraner vorstellt, auf seine Tasche angesprochen. „So eine Tasche habe jemand gehabt, der verschwunden sei.“ Der Erzähler lässt sich nichts ahnend auf ein Gespräch mit Kagraner ein, bemerkt aber gleich, dass er selbst nicht zu Wort kommt.

Kagraner hat etwas magisch Herausquellendes an sich, so dass man sich seinen verbalen Ergüssen nicht entziehen kann. Der Erzähler kann es kaum noch erwarten, mit Kagraner zusammenzusitzen und sich von diesem voll-plärren zu lassen. Und Stoff gibt es genug. Ein liegen gebliebener Koffer in einem Regionalzug, ein Urlaub ohne Wiederkehr, ein Erbschaftsverlust auf bloßen Verdacht hin, Reibereien mit unmusikalischen Kindern, und immer wieder eine Frau, die letztlich nicht einmal als Komplementär-Menge zur eigenen Glücksvorstellung geeignet ist.

Kagraner redet und redet, trinkt seinen Kaffee, und wenn er wegen seiner Frau besonders erregt ist, gibt es einen Cognac.

Das staunende Ich will an und für sich nur berichten, dass es mit der neuen Satellitenschüssel Probleme gibt und dass auf Handwerker nicht mehr allzu viel Verlass ist. Aber nicht einmal diese lapidaren Grundstimmungen setzen sich gegen Kagraner durch.

Wenn es nicht um privates Getratsche geht, werden Allerweltsthemen verhandelt: das Rauchen, das Aussterben der Völker, das Waldviertel als ideale Vorbereitung auf das Altwerden.

Und dann ist Kagraner auf einmal verschwunden, der Erzähler wartet wochenlang und rührt dabei seinen Kaffee in die eigene Geschmacklosigkeit. Fast zwölf Jahre mag Kagraner schon verschwunden sein, als er eines Tages wieder an seinem Platz sitzt und weiter quasselt, als wäre er nie fort gewesen. Freilich gibt es jetzt ab und zu ein Treffen, wo es keine Geschichte gibt, das ist fast ärger als der Tod. Vielleicht bereitet sich Kagraner auch auf einen neuen Zustand vor, denn die rätselhaften Sätze häufen sich.

Beim Laufen ist plötzlich der Körper weg, nur Bäume und Himmel, Gras und Erde. (185)

Am Schluss gibt es einen weiten Blick aus dem Fenster und Kagraner ist abermals verschwunden. Der Erzähler versucht, mit der Tasche des Verschollenen Kontakt aufzunehmen.

Gustav Ernst serviert mit seinem ungleichen Paar eine ideale Kaffeehausbesetzung, die alle wesentlichen Themen Österreichs erörtert. Einer hat immer das Sagen, der andere das Zuhör-Bummerl, und beide schaffen zusammen diese sagenhafte Stimmung, die täglich den Weltuntergang hinter sich bringt. - Grotesk grandios.

Gustav Ernst, Zur unmöglichen Aussicht. Roman
Innsbruck: Haymon 2015, 200 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-7099-7173-4

Weiterführende Links:
Haymon Verlag: Gustav Ernst, Zur unmöglichen Aussicht
Wikipedia: Gustav Ernst

 

Helmuth Schönauer, 08-04-2015

Bibliographie

AutorIn

Gustav Ernst

Buchtitel

Zur unmöglichen Aussicht

Erscheinungsort

Innsbruck

Erscheinungsjahr

2015

Verlag

Haymon Verlag

Seitenzahl

200

Preis in EUR

19,90

ISBN

978-3-7099-7173-4

Kurzbiographie AutorIn

Gustav Ernst, geb. 1944 in Wien, lebt in Wien.