Von Menschenbibliotheken, Asylsuchenden und Odysseus

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat, und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet ... (Odyssee I, 1-4)

Mit diesen Worten beginnt die Odyssee, neben der Ilias das älteste europäische literarische Werk. Odysseus bittet als Hilfesuchender beim König der Phaiaken um Asyl und Gastfreundschaft. Am Hof des Königs Alkinoos erzählt Odysseus die Geschichte seiner Irrfahrten und berührt damit die Herzen der anwesenden Phaiaken.


Mit Unterstützung des Landes Tirol, der Stadt Innsbruck und Innsbrucker Verkehrsbetriebe gelang es gelang es die Idee einer Mobilen MenschenBibliothek an verschiedenen Öffentlichen Plätze, wie vor dem Tiroler Landesmuseum, durchzuführen. Foto: Markt-Huter

 

Wie in Homers großem Epos werden auch im Projekt Mobile Menschenbibliothek oder Living Library Geschichten und Schicksale nicht in Büchern sondern unmittelbar von den Menschen erzählt, die sie selbst erlebt haben. Oft sind es Flüchtlingsschicksale, die unter Gefahr und mit großer Mühe ihre Heimat und bisherige Existenz verlassen haben und nun in Österreich auf Asyl und Gastfreundschaft hoffen.

 

  Heilig sind ja, ach selbst unsterblichen Göttern, die Menschen,   
Welche von Leiden gedrängt um Hilfe flehen! Ich winde
Mich vor deinem Strome, vor deinen Knieen, in Jammer!
Herrscher, erbarme dich mein, der deiner Gnade vertrauet!

(Odyssee, V, 447-450)

 

Entstanden ist die ein wenig schräge Idee sich von Menschen als so genannte lebende Bücher ihr Schicksal und Leben erzählen zu lassen im Jahr 2000 in Dänemark. Seither gab es bereits in zahlreichen Ländern Amerikas und Europas Veranstaltungen mit lebenden Bibliotheken. Organisatoren der Living Library befinden sich in Australien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Großbritannien, Island, Italien, Litauen, Kanada, Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Österreich, Rumänien, Schweden, Serbien, Slowenien, Spanien, in der Türkei, der Ukraine, in Ungarn und in den Vereinigten Staaten.


Miteinander reden und nicht übereinander lautete das Motto der Veranstaltung. Eine Woche lang wurde die Möglichkeit, das Schicksal von Menschen aus anderen Ländern und Kulturen im persönlichen Gespräch kennen zu lernen, ausgiebig genutzt. Foto: Markt-Huter

 

Im Mittelpunkt dieses Projekts steht das persönliche Gespräch und das Kennenlernen von Menschen, die für gewöhnlich als Randgruppen einer Gesellschaft betrachtet werden. Ziel ist es, mit den Menschen zu reden und nicht über sie zu reden.

 

Jetzo gefällt es dir, nach meinen kläglichen Leiden
Mich zu fragen, damit ich noch mehr mein Elend beseufze.
Aber was soll ich zuerst, was soll ich zuletzt dir erzählen?

Denn viel Elend häuften auf mich die himmlischen Götter!
Sagen will ich zuerst, wie ich heiße: damit ihr mich kennet,
  Und ich hinfort, so lange der grausame Tag mich verschonet,   
Euer Gastfreund sein, so fern ich von hinnen auch wohne.

(Odyssee IX, 12-18)

 

 

In Innsbruck wurde die Veranstaltung unter dem Namen Mobile MenschenBibliothek vom 6. - 10. Oktober 2008 an verschiedenen öffentlichen Plätzen der Stadt durchgeführt.

In einem IVB-Bus warteten die Bücher der lebenden Bibliothek auf ihre Ausleihe. Vorher war es aber nötig sich einen Bibliotheksausweis anfertigen zu lassen. Anschließend konnte aus einem Katalog mit ca. 30 lebenden Bücher ausgewählt werden. Ich leihe mir das lebendes Buch Kathrin aus, zufälligerweise die einzige Österreicherin unter den lebenden Büchern.


Nach einer Auswahl aus dem knapp 30 Personen umfassenden Katalog mit lebenden Büchern konnte das Gespräch sofort beginnen. Thema und Länge der Unterhaltung blieben frei, lediglich die Leih- und Benutzerordnung der Mobilen Menschenbibliothek mussten eingehalten werden. Foto: Markt-Huter

 

Die aus Niederösterreich stammende Journalistin hat sich im Zuge des Nationalratswahlkampfes intensiv mit dem Thema Emigranten und Asyl auseinander gesetzt. Als lebendes Buch für die Veranstaltung habe sie sich aufgrund eines Inserats des Veranstalters Emir Handzo gemeldet und war erstaunt, die einzige Österreicherin der Living Library zu sein. Vom Schicksal ihrer ausländischen Kollegen, die zum großen Teil als Flüchtlinge nach Österreich gekommen waren, zeigte sie sich tief beeindruckt.

Einer ihrer Buch-Kollegen war während des Krieges aus Sarajevo geflohen und erst nach 54 Tagen auf der Flucht schließlich nach Österreich gekommen. Als Asylant wurde er in einem Flüchtlingsheim untergebracht, wo er nun schon seit 2 Jahren lebe, ohne arbeiten zu dürfen. Ausgang sei nur bis 18 Uhr, was sie schon ein wenig an gefängnisähnliche Verhältnisse erinnere. Viele der Asylanten hätten außerdem gegen das weit verbreitete Vorurteil anzukämpfen, kriminell zu sein oder mit Drogen zu handeln, erklärt Kathrin.

 

  König, es ziemet sich nicht, und ist den Gebräuchen entgegen,  
Einen Fremdling am Herd in der Asche sitzen zu lassen.
Diese Männer schweigen, und harren deiner Befehle.
Auf, und führe den Fremdling zum silberbeschlagenen Sessel,
Dass er bei uns sich setze; und lass die Herolde wieder
Füllen mit Weine den Kelch; damit wir dem Gotte des Donners
Opfer bringen, der über die Hilfeflehenden waltet.
Und die Schaffnerin speise von ihrem Vorrat den Fremdling. 

(Odyssee, VII, 159-166)

 

 

Die Living Library, die auch schon in Deutschland in zahlreichen Öffentlichen Büchereien durchgeführt worden ist, geht in Innsbruck auf die Eigeninitiative von Emir Handzo zurück, der die Stadt Innsbruck und zahlreiche Sponsoren für die Unterstützung seiner Idee gewinnen konnte.

Mit der mobilen Menschenbibliothek hoffe ich, den Besuchern eine Gelegenheit zu geben, Menschen aus Irak, Iran, Bosnien, Indien, der Türkei, aus Palästina, Somalia, Griechenland oder vom Libanon zu treffen.

Hören Sie ihre Geschichte, finden Sie heraus, warum sie in Österreich sind und wer sich wirklich hinter ihren unterschiedlichen Gesichtern versteckt.


Emir Handzo (Bild rechts) gelang es mit großem Engagement die Idee der Living Library auch nach Innsbruck zu bringen. Dieser außerordentlich gelungenen Aktion sind viele  Nachfolgeveranstaltungen mit lebenden Büchereien zu wünschen.  Foto: Markt-Huter

 

Integration in Österreich muss auf ein Straßen-Niveau gesetzt werden, dahin wohin die Leute gehen. In diesem Fall, indem verschiedene Menschen mit einer Menge an Erfahrung als Buch zum Ausleihen zur Verfügung gestellt werden.

Das ist mein Beitrag zum Verständnis zwischen Einheimischen und den unterschiedlichen ethnischen Minoritäten, die wir in Österreich haben.
Emir Handzo: Idee zur Menschenbibliothek

Es würde vielleicht ein wenig zu weit gehen ein so hohes Ausmaß an Gastfreundschaft für Hilfesuchende zu verlangen, wie es das Volk der Phaiaken in Homers Odyssee bereit war aufzubringen. Diese hielten trotz aller Warnungen durch den Meeresgott Poseidon an der Unumstößlichkeit des Gastrechtsrechts für Fremde fest.

 

Nur erzählete mir mein Vater Nausithoos ehmals,
Dass uns Poseidon der Erderschütterer zürne,
Weil wir ohne Gefahr jedweden zu Schiffe geleiten;
Dieser würde dereinst ein rüstiges Schiff der Phäaken,
Das vom Geleiten kehrte, im dunkelwogenden Meere
  Plötzlich verderben, und rings um die Stadt ein hohes Gebirg ziehn.  
So weissagte der Greis; der Gott vollende nun solches,
Oder vollend es nicht; wie es seinem Herzen gelüstet;

(Odyssee, VIII, 564-572)

 

 

Hingegen sollte es doch auch bei uns möglich sein, Fremden und Hilfesuchenden ein wenig das Gefühl der Gastfreundschaft und des Verständnisses zu geben, ihnen zu zuhören. Dies gelingt nur schwer ohne den Versuch, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Dazu scheint die Idee der Mobilen Menschenbibliothek oder der Living Library bestens geeignet und Projekte dieser Art werden hoffentlich an vielen Öffentlichen Plätzen und Büchereien in Tirol auch in den kommenden Jahren Nachahmung finden.

 

 

Weiterführende Links:

 

Andreas Markt-Huter, 13-10-2008

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