Erinnern wider das Vergessen - Eine Auseinandersetzung

Die Zeit des Nationalsozialismus bildete das zentrale Thema unseres heurigen Deutsch- und Geschichtsunterrichts. Wir beschäftigten uns mit Büchern, die das Leben von Menschen im KZ im Speziellen und  den Holocaust im Allgemeinen beschreiben.

Von September 1939 bis Feber 1945 regierte die an Grausamkeit nicht zu überbietende nationalsozialistische Diktatur. Unzählige Menschen wurden aus rassistischen, politischen, religiösen und aus sonstigen ideologischen Gründen, auch wegen ihrer sexuellen Neigung, deportiert und ermordet.

Folgende Lektüre diente uns als Grundlage für diese Erörterung:

  • Viktor Frankl, Trotzdem ja zum Leben sagen
  • Ruth Klüger, Weiterleben
  • Liana Millu, Rauch über Birkenau
  • Peter Weiss, Die Ermittlung
  • Elisabeth Reichart, Februarschatten
  • Andreas Grubers Film, Mühlviertler Hasenjagd


Peter Weiss Ermittlungen, Elisabeth Reicharts Februarschatten und Andreas Grubers Film Mühlviertler Hasenjagd bringen die Verbrechen des Nationalsozialismus auf erschreckende Weise zum Bewusstsein.

In seinem aufrüttelnden Buch Trotzdem Ja zum Leben sagen schildert Viktor Frankl seine Erinnerungen an das Leben in Konzentrationslagern. Der Leser/ die Leserin erfährt eine psychologische Sichtweise der Ereignisse. Es ist kein Buch der Anklage und des Hasses, sondern des Verständnisses für menschliche Schwäche und Begrenztheit.

Nach dieser umfassenden Vorbereitung führte uns die diesjährige Klassenfahrt führte uns nach Steyr. Dort besichtigten wir den jüdischen Friedhof und das Museum der Arbeitswelt. Anschließend fuhren wir nach Mauthausen. Ins ehemalige KZ. Und nun, an dieser Stelle, sollte ich einfach schlicht und kurz schreiben: Punkt. Ich erinnere mich an nichts. (Verdrängen wäre hier vielleicht das beste Mittel.)

Ist es tatsächlich möglich, dass Menschen zu solchen Taten fähig sind?
Atemholen.
Schweigen.
Etliche Gedankenstriche.
Viele, viele Leertasten.
Innehalten vor den Schwarz-Weiß-Bildern.
Schwarz vor den Augen.
Gleichzeitig Lärm und Stille im Kopf.
Keine Sprache, kein Dichter dieser Welt kann das hier beschreiben.
Nein. Verdrängen ist nicht das beste Mittel. Trotz allem.


Konzentrationslager Mauthausen - Frontansicht. Bild-Quelle: Wikipedia

Es gehört zu den Aufgaben einer Gedenkstätte für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft, den Nutzern, insbesondere den Kindern und Jugendlichen, die politische Dimension der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft zu verdeutlichen und die Chancen und Risiken für politische Prozesse auf praktisch allen Ebenen aufzuzeigen, um sie bei der Identitätsentwicklung, politischen Orientierung und rationalen Urteilsbildung zu unterstützen.
aus: mauthausen-memorial: KZ-Gedenkstätte Mauthausen

Wenn es mir auch schwer fällt meine Eindrücke zu schildern, so werde ich das nun dennoch versuchen:

Es war eine Bereicherung für mich, das Konzentrationslager zu betreten, da ich vor Ort eine ganz andere, neue Sicht auf mein bis dato theoretisches Vorwissen erfuhr. Jeder einzelne Raum atmete das Grauen der Vergangenheit, das Grauen war greifbar, zwingend - ein Zwang, dem ich nicht entrinnen konnte. Bilder reihten sich in meinem Kopf. Da ich die Szenen gedanklich so detailliert erlebte, erschienen sie mir, als ob sie meinen eigenen Erinnerungen entsprechen würden.

Wir standen eine Weile direkt vor der Mauer, meine MitschülerInnen und ich, schweigend und kopfschüttelnd - vor jener Mauer, über die im Feber 1945 sowjetische Kriegsgefangene geklettert waren, um zu fliehen. Sie hatten nahezu keinerlei Chance davonzukommen...

Im Film Mühlviertler Hasenjagd von Andreas Gruber, den wir kurz vor der Reise nach Mauthausen anschauten, wird die Menschenjagd dargestellt. Der Untertitel bringt es auf den Punkt: Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen. Von den 500 Geflüchteten haben nur elf überlebt... Der Film handelt von der Zivilcourage einer Familie und erinnert an die wenigen mutigen Menschen, die mit ihrem Widerstand ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten.


Die Todesstiege und die Umfassungsmauer des KZ Mauthausens. Bild-Quelle: Wikipedia

Erinnerungen sind das mentale Wieder- Erleben früherer Geschehnisse und Erfahrungen. Sie enthalten bildhafte Elemente, Szenen, die wie ein Film ablaufen, Geräusche und Klangfarben, oft auch Gerüche und vor allem Gefühle.

Wer kann die Gefühle und Erinnerungen an diese Verbrechen besser vermitteln als Zeitzeugen und Zeitzeuginnen? Es gibt nichts Spannenderes, als meinen beiden Omas zuzuhören, wenn sie von ihren Kindheitserlebnissen berichten, die von Armut, Krieg und Not geprägt waren.

Die berührendste Erfahrung jedoch war für mich der Besuch der Zeitzeugin Dorli Neale, einer Dame, die den Holocaust überlebt hat. Gemeinsam mit ihrem Sohn und ihrer Enkelin besuchte sie ihre Geburtsstadt Innsbruck und ihre ehemalige Schule, das Gymnasium Sillgasse, um von ihren Erinnerungen zu berichten:

Mit 15 Jahren änderte sich Dorli Neales unbeschwerte Kindheit schlagartig: Quasi von einem Tag auf den anderen, als statt Heil Schuschnigg! plötzlich Heil Hitler! gerufen wurde, war für das junge Mädchen Dorli das Kindsein vorbei. Man begann, die Juden zu verfolgen. Auf einmal war ich Jüdin! - Diese lapidare Aussage von Frau Neale hat mich zutiefst berührt.

Frau Neale wurde  mit einem so genannten Kindertransport nach England in Sicherheit gebracht. Ihre Eltern, der Innsbrucker Kaufmann Friedrich Pasch und seine Frau Rosa, sowie die beiden älteren Schwestern Trude und Ilse konnten sich später ebenfalls nach England retten.


Dorli Neale besuchte nach mehr als 70 Jahren ihre alte Schule, das Gymnasium in der Sillgasse in Innsbruck wieder, wo sie im Jahr 1938 vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Foto: Gymnasium Sillgass

Die betagte Dame lebt heute in London. Ihre Biografie wurde vom USC Shoah Foundation Institute for Visual History, das von  Steven Spielberg gegründet wurde, auf Video aufgenommen.  So entstand die DVD Das Vermächtnis; Verfolgung, Vertreibung und Widerstand im Nationalsozialismus.

Das Shoa Foundation Institute setzt sich zum Ziel, möglichst viele Zeugnisse von Überlebenden zu sammeln und der Nachwelt zu erhalten. Jene Generation, die den 2. Weltkrieg miterleben musste, stirbt nun langsam aus. Doch diese Erinnerungen dürfen nie sterben und müssen auch in ferner Zukunft in den Köpfen nachfolgender Generationen präsent bleiben.

Gerade in einer Zeit, in der leider wieder der Rechtspopulismus aufkeimt (siehe das Ergebnis der gestrigen Europawahlen), ist das Sich- Erinnern unabdingbar. Dem Rechtsradikalismus darf ein vernunftbegabtes Wesen einfach keine Chance mehr geben. Vor allem meine Generation muss sich entschieden gegen dieses Aufkeimen zur Wehr setzen.

Dieses Verständnis, das keine Rechtfertigung ist, schließt für Frankl Rache und Vergeltung aus, denn niemand hat nach seiner Überzeugung das Recht, Unrecht zu tun, auch der nicht, der Unrecht erlitten hat (S. 145). Man soll sich immer an seine positive Grundeinstellung erinnern, welche Tiefen man auch im Leben erfährt. Selbst in der furchtbarsten Existenzbedrohung darf man nie auf den Sinn des Lebens vergessen.

 
Viktor Frankl, Ruth Klüger und Liana Millu schildern in ihren Bücher ihre Erlebnisse in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern.

An dieser Stelle möchte ich auf die so genannte Erinnerungshierarchie hinweisen, die folgendermaßen aussieht: Während in den Städten und Dörfern Denkmäler für die Kriegsgefallenen zentral positioniert sind, findet man Gedenktafeln für die Opfer von Widerstand und Verfolgung meist in der Peripherie.

Lange Zeit nach Kriegsende wurde über die Ausrottung unerwünschter Rassen geschwiegen, vielmehr erzählte man von der Verteidigung der Heimat durch die Soldaten der deutschen Wehrmacht.

Erst Jahrzehnte nach 1945 wurden Zeichen einer neuen Erinnerungskultur gesetzt. Die Bewohner Österreichs wurden offenkundig als mitverantwortlich an den NS- Verbrechen erklärt. Die neue Erinnerungskultur wurde vor allem den Holocaust- Opfern gewidmet, und es entstanden zahlreiche Denkmalprojekte.

1953 wurde Yad Vashem als Zentrum für Dokumentation, Erforschung, Pädagogik und als Gedenkstätte an den Holocaust gegründet. Sie liegt auf dem Berg der Erinnerung in Jerusalem.

1997 erklärte das Parlament den 5. Mai, den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, zum Gedenktag für die Opfer des NS-Regimes.


Die Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust Yad Vashem in Jerusalem ist die bedeutendste Gedenkstätte an die nationalsozialistische Judenvernichtung. Bild-Quelle: Wikipedia

  

Schlusswort:

Ich bin froh, dass wir uns heuer so ausführlich mit dem Thema Nationalsozialismus beschäftigt haben. Umso mehr gibt mir die heutige gesellschaftspolitische Lage zu denken. Mich erschüttert die Tatsache, dass laut einer Studie der Universität Innsbruck immer noch (oder schon wieder?) nahezu die Hälfte aller ÖsterreicherInnen zu Fremdenfeindlichkeit tendiert.

Mögliche Gründe für eine ausländerfeindliche Haltung mögen vorherrschende Sorgen, wie die Wirtschaftskrise oder die Angst um den Arbeitsplatz, sein. Der Mensch sucht gerne nach einem Sündenbock, um von seinen eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken oder sein Nichtwissen zu kompensieren.

Oft wirkt es fast so, als ob sich die Zeit im Kreis dreht, denn die Menschen scheinen nie dazuzulernen. Was ich mir einfach nicht erklären kann, ist, dass so viele alte Leute fremdenfeindlich sind, obwohl sie doch eigentlich aus ihren Erfahrungen und Erinnerungen hätten lernen müssten.

 

Lernt denn der Mensch wirklich nie dazu?

 

Weiterführende Links:

 

Anna Schöpf,  BG/BRG Sillgasse: Juni 2009
bearbeitet: Andreas Markt-Huter, 10-11-2009

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