Fabio Genovesi, Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden

Jeder Mensch arbeitet ein Leben lang an seiner eigenen Erzählung, mit der er sich und anderen das Leben begreifbar macht. Und dann gibt es ab und zu eine Jahreszeit, da muss man sich selbst alles neu aufsetzen und erklären, weil nichts mehr passt.

Fabio Genovesi arbeitet mit viel Sommerlicht, wenn er seine Heldinnen und Helden zur Neuausrichtung an den Strand schickt. Alles ist hell, warm, das Meer rauscht glatt wie auf einem Cover. Und tatsächlich inspiriert vor allem ein meerblauer VW-Bus, der ein gelb-blaues Schlauchboot als Firmament-Grenze am Dach trägt, zu einer fröhlichen Lese-Ansicht.

Dabei ist alles andere als Fröhlichkeit angesagt, die dreizehnjährige Heldin Luba streift in Ich-Form täglich den Strand entlang, um vielleicht Botschaften zu empfangen, ihr Bruder ist ja beim Surfen verunglückt. Sie ist ein bemerkenswertes Girl, weil sie mit ihren weißen Albino-Haaren selbst am hellen Strand noch hervorsticht. „Das Leben kann warten, jetzt ist fröhliches Erforschen der Welt angesagt.“

Im inneren Du-Monolog tritt ihre Mutter Serena auf, die schon alles hinter sich hat, und der alles anders gekommen ist als geplant. Selbst die Kinder sind aus einem Sperma-Katalog ausgesucht worden und nicht einmal die Namen hat sie sich aussuchen können, diese haben die Kinder gleich mitgebracht, Luca und Luba.

Erzähltheoretisch spielt der Hilfslehrer Sandro eine wichtige Rolle, er tritt in abenteuerlicher ER-Rüstung auf, und alles, was er sagt, könnte eine fixe Konstante sein.

Nichts ist ein Problem an einem Sonntag wie diesem. (42)

Die letzten Schultage vor dem Sommer, das Verschwinden des Bruders, das aufgeregte Meer, das die Nacht hindurch schreit, die seltsamen Überbleibsel des Tagesgeschehens im frisch aufgespülten Strand: Überall winden sich kleine Geschichten hervor und wollen gezähmt werden.

Rentner, die kein Zeitgefühl haben, eine doppelhalsige Gitarre, die ins Leere spielt, ein Genie, das sich selbst nicht die Schuhe binden kann, Kochtöpfe, die die Rezepte gleich mit eingebrannt haben – Luba ist einem Erinnerungstsunami ausgesetzt, wie sie es selbst nennt.

Als dann noch ein Waisenknabe aus Tschernobyl in das Abenteuer „Zukunft“ eingreift, ist der Set perfekt:

Wir sind alle normal, solange man uns nicht gut genug kennt. (371)

In diesem Sommer wird alles zusammengetragen, was man an Lebensweisheiten brauchen wird.

Wenn man wegläuft, ist es nicht wichtig, wohin man läuft. (529)

Und letztlich wird der traurige Kern der maritimen Fortspülgeschichte tatsächlich den Wellen geopfert, der tote Bruder schickt immer seltener Signale, die allmählich in Alltagsfragen untergehen, was haben Quallen für einen Sex? - Eine Anleitung, das Leben im Herbst hell und aufmüpfig anzugehen.

Fabio Genovesi, Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden. Roman, a. d. Ital. von Mirijam Bitter [Orig.: Chi manda le onde, Milano 2015]
Berlin: Insel Verlag 2016, 571 Seiten 17,50 €, ISBN 978-3-458-17671-8

 

Weiterführender Link:
Insel Verlag: Fabio Genovesi, Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden

 

Helmuth Schönauer, 11-12-2016

Bibliographie

AutorIn

Fabio Genovesi

Buchtitel

Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden

Originaltitel

Chi manda le onde

Erscheinungsort

Berlin

Erscheinungsjahr

2016

Verlag

Insel Verlag

Übersetzung

Mirijam Bitter

Seitenzahl

571

Preis in EUR

17,50

ISBN

978-3-458-17671-8

Kurzbiographie AutorIn

Fabio Genovesi, geb. 1974 in Forte dei Marmi, lebt in Forte dei Marmi.